Das Geheimnis der Krähentochter
darauf bedacht, keinen der verzweifelt
Fliehenden entkommen zu lassen. Aus Wänden und Dächern züngelten trotz der
feuchten Luft bereits die ersten Flammen.
Sowohl die Mitglieder der Hoffamilie als auch die Bediensteten
rannten barfuß und nur notdürftig bekleidet über die mit letzten Reifspuren
bedeckte Erde, um im Wald Schutz zu suchen. Aber die wie aus dem Nichts
aufgetauchte Übermacht ließ ihnen keine Chance.
Die Fremden sahen nicht anders aus als die
unzähligen Söldner, die in verschiedenen Heeren und Kampfeinheiten die Länder
verwüsteten. Sie trugen große Federhüte, schillernd bunte Hemden aus grobem
Stoff und Bänder aus denselben Farben an Hosen und Strümpfen. Manche hatten als
Schutz einen Lederwams oder ein Kettenhemd übergeworfen. Auf ausgemergelten,
wild umherhüpfenden Pferden sitzend, schlugen sie mit Kurzschwertern und Degen
um sich. Einige hatten sich schon von ihren Tieren geschwungen und wüteten
brüllend durch das große Haupthaus des Hofes. Einer der Knechte lag vor der
Hütte, in dem die Bediensteten schliefen, wo auch Bernina vor Kurzem noch
geschlummert hatte, und auf seiner nackten Brust breitete sich eine Lache roten
Blutes aus. Noch mehr Menschen sanken zu Boden, von Schlägen, Klingen oder den
inzwischen weniger werdenden Musketenschüssen getroffen. Sogar die Tiere wurden
nicht verschont. Die Fremden stürmten in die Ställe, um Kühe und Kälber und
Ziegen und die beiden Ackergäule zu töten.
Inmitten des furchtbaren Durcheinanders thronte ein Mann auf
seinem Pferd – ein eigenartiges Bild stoischer Ruhe. Pechschwarz der
hochbeinige Hengst, ebenso schwarz der lange Umhang und der breitkrempige Hut
des Mannes. Sein Gesicht war schmal, bleich die Haut seiner Wangen, und weiß,
fast silbern hingen Strähnen wirren Haares bis zu seinen Schultern herab. Auch
Kinn- und Schnurrbart waren von dieser Farbe. Kalt, unvorstellbar kalt, wie
Eiskristalle, blickten seine Augen auf die Grausamkeiten, die sich um ihn herum
abspielten. In seiner Hand lag ein Degen, der wohl der einzige war, von dessen
Klinge kein Blut tropfte. Gebannt starrte Bernina ihn an. Dieses Gesicht,
schoss es durch ihren Kopf, so muss der Teufel aussehen, der Teufel
höchstpersönlich.
Voller Entsetzen verfolgte Berninas Blick, wie Hildegard an ihrem
langen hellen Haar über den Boden auf den Platz vor dem Hauptgebäude geschleift
wurde. Aus Leibeskräften schrie sie um Hilfe, und die vertraute Stimme so zu
hören, war wie ein Messerschnitt in Berninas Haut.
Hildegard war die Tochter des Petersthal-Bauern, und obwohl
Bernina nur eine Magd war, waren die beiden seit ihren Kindertagen freundschaftlich
verbunden. Der Söldner ließ von Hildegards Haar ab. Sie versuchte aufzustehen,
doch der Mann stieß sie mit einem Lachen wieder zu Boden, um ihr im nächsten
Augenblick das Hemd vom Leib zu reißen.
Als Bernina Hildegards Brüste schutzlos dem heller werdenden
Tageslicht ausgesetzt sah und einen erneuten verzweifelten Schrei ihrer
Freundin hörte, sprang sie auf.
Auch wenn es sinnlos war, auch wenn es sie ihr eigenes Leben
kosten würde – sie musste Hildegard zu Hilfe eilen, sie musste einfach
etwas tun.
Allerdings kam Bernina nicht weit. Plötzlich wurde sie von hinten
gepackt. Zwei Hände umklammerten ihre Oberarme, hart wie Stahl. Bernina
versuchte sich loszureißen, doch die Hände zogen sie nach hinten, weiter hinein
in den Schutz der dunklen Bäume.
»Nein!«, rief sie. »Lass mich los!«
Und erst da bemerkte sie, wer sie so unbarmherzig ergriffen hatte.
Die Krähenfrau. Funkelnd wie schon zuvor die kleinen Augen, die Bernina
scheinbar ebenso fest umschlossen wie die Hände.
»Sei nicht töricht«, zischte die Frau. »Du bringst dich nur selbst
um.«
»Lass mich los«, wiederholte Bernina voller Zorn. »Ich muss
helfen.«
»Du musst gar nichts«, kam leise die Antwort.
Bernina wehrte sich, versuchte sich dem Griff zu entwinden, aber
obwohl sie jünger war, schien die Krähenfrau über mehr Kraft zu verfügen –
mehr als Bernina ihr jemals zugetraut hätte.
»Sei nicht töricht«, zischte die Frau von Neuem.
»Nicht! Lass mich endlich los. Ich muss …«
Plötzlich wirbelte die Krähenfrau Bernina mit großem Schwung
herum, und die junge Frau prallte mit voller Wucht gegen den Stamm einer Buche.
Vor Berninas Augen verschwamm alles. Der Lärm der Söldner, eben
noch so nah, schien auf einmal weit weg zu sein. Benommen sank sie dem Boden
entgegen. Sie roch die Erde des Waldes, die sich
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