Das Geheimnis der Krähentochter
tiefer Dunkelheit umhüllt wurde.
Als sie das nächste Mal erwachte, glaubte sie noch einen langen
verwirrenden Moment, alles nur geträumt zu haben. Doch die Gerüche der Hütte
und die neben ihr hockende Gestalt ließen keinen Zweifel daran, dass alles
wirklich geschehen war.
»Wie geht es dir inzwischen?«, kam sofort die Frage der
Krähenfrau.
»Ich weiß nicht recht«, erwiderte Bernina gedehnt. »Wie lange habe
ich diesmal geschlafen?«
»Ein paar Stunden. Bald ist die Nacht da.«
Bernina stütze sich auf ihre Ellbogen. Ihr Blick kreiste durch die
Hütte. Wieder fielen ihr die Symbole auf, die in die Wände geritzt worden
waren. Mittlerweile loderte ein kleines Feuerchen in dem Steinkreis, und der
Rauch zog in dünnen Fäden aus dem Abzug nach draußen, dem bereits dunkler
werdenden Himmel entgegen.
»Ich möchte aufstehen.«
Die Frau hob warnend die Hand. »Übereile nichts.«
»Aber ich kann nicht ewig hier liegen bleiben.«
»Dein Kopf schmerzt noch.« Es klang nicht wie eine Frage.
»Ja, das tut er«, gab Bernina widerwillig zu.
»Dir ist schwindelig.« Wiederum eine Frage, die keine war.
»Ja.«
»Dann lass dir Zeit, sammle Kraft. Es gibt sowieso nichts, was du
jetzt tun könntest. Außer an dich zu denken und dich zu erholen.« Und mit
seltsam verschwörerischem Unterton fügte sie hinzu: »Was immer in deinem Leben
noch auf dich wartet, du wirst deine Kräfte nötig haben. Gerade du.«
»Wie meinst du das?«
Doch Bernina erhielt keine Antwort. Die Frau stand auf, schob ein
rußgeschwärztes Gestänge über das Feuer und hing einen gusseisernen Topf daran
auf. Bald stieg Dampf auf, und ein merkwürdiger Duft erfüllte den Raum.
Hier lebt sie also, dachte Bernina, die geheimnisvolle Krähenfrau.
Die Einsiedlerin. Die Hexe.
Sie handelte auf den umliegenden Höfen und in einigen Dörfern mit
Kräutern und Wurzeln – und gelegentlich auch mit ihren angeblich ganz
besonderen Heilkräften. Zwar hätte niemand zugegeben, sich von ihr behandeln zu
lassen, doch bei stärkeren Erkältungen, Fieberanfällen und der Beulenpest
sprachen sie gerade die ärmeren Leute häufig an, betont unauffällig. Und vor allem
bei Geschlechtskrankheiten, denn die Krähenfrau war bekannt für ihre
Verschwiegenheit.
Das war auch wichtig für sie. Wenn ihre
angeblichen Heilkräfte sich zu weit herumsprachen, konnte es ungemütlich für
sie werden. Erst vor einem halben Jahr wurden zwei Frauen aus der Nähe von
Freiburg mit dem Verdacht auf Hexerei eingesperrt. Für eine ganze Weile sah man
keine von ihnen wieder. Bis zu jenem Tag, als die beiden Scheiterhaufen
errichtet wurden.
Bernina blickte sich noch immer argwöhnisch in der Hütte um. Sie
ging davon aus, dass niemand außer ihr je hier gewesen war. Wenn die Leute die
Frau um Hilfe baten, mussten sie für gewöhnlich darauf warten, bis sie auf den
Marktplätzen der Dörfer oder von sich aus auf einem Hof auftauchte. Nur bei
diesen Gelegenheiten konnten sie sie um Rat ersuchen.
Bernina ertappte sich dabei, wie ihre Augen über die mit dunklen,
geflickten Umhängen bekleidete Krähenfrau glitten. Es war komisch. Bernina
hatte sie immer als Kuriosum betrachtet, als eine sonderbare Figur, die anderen
Leuten eine Gänsehaut bescherte, bei ihr selbst jedoch eher Mitleid hervorrief.
Jetzt und hier dachte sie auf einmal anders.
Beim Anblick der Frau, die zwei Schalen für das Essen
vorbereitete, in ihrem Topf rührte und eine Handvoll Kräuter rieb, um sie in
die Suppe zu geben, wurde Bernina erst richtig bewusst, dass die Heilerin aus
Fleisch und Blut war wie jeder andere Mensch auch. Dass sie Gefühle und Ängste
haben musste.
Und auch etwas anderes wurde ihr bewusst.
»Du hast mir das Leben gerettet«, sagte Bernina leise in die
Stille der Hütte hinein. »Hättest du mich nicht aufgehalten, wäre ich in mein
Verderben gerannt. Ich hätte versucht zu helfen, dabei wäre es sinnlos gewesen.
Aber ich konnte gar nicht anders. Ich dachte nicht nach, ich sah nur, was geschah,
und konnte es nicht begreifen, wollte es einfach nicht geschehen lassen, ohne
etwas dagegen zu tun.«
»Es freut mich, dass du ein gutes Herz hast. Doch vergiss darüber
nie, deinen Verstand zu gebrauchen.«
»Ich weiß, dass das Unsinn war. Aber …«
Die Frau rührte weiter in ihrem Topf herum und zeigte ein kurzes
Lächeln. »Versuch nicht mehr daran zu denken. Du wirst leider noch oft genug
davon träumen.«
Nicht ohne Schuldbewusstsein bemerkte Bernina: »Auf jeden Fall
hätte ich mich
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