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Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Titel: Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dryas Verlag
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er den Brief wieder zusammenfaltete. Dieser Brief befreite ihn von einer Pflicht, die zu erfüllen im höchsten Maße schmerzlich für ihn gewesen wäre. Sir Michael ­Audley würde niemals erfahren, dass die Frau, die er geliebt hatte, das Brandmal einer Mörderin auf ihrer Seele trug.
    Robert hatte nur noch den dritten Brief zu öffnen. Er riss den Umschlag auf und las den Brief. Er war ebenso kurz wie jener von Sir Michael und enthielt nur diese wenigen Zeilen:
    „Lieber Mr Audley! Der Pfarrer des Ortes hat Marks, den Mann, den Sie aus dem Feuer im Castle Inn errettet haben, zweimal aufgesucht. Er liegt in sehr bedenklichem Zustand im Hause seiner Mutter in der Nähe von Audley Court, und es ist nicht zu erwarten, dass er noch viele Tage leben wird. Seine Frau sorgt sich um ihn, und beide haben den Wunsch geäußert, dass Sie ihn besuchen mögen, bevor er stirbt. Bitte kommen Sie unverzüglich. Ihre sehr ergebene Clara Talboys, Pfarrhaus, Mount Stanning.“
    Robert Audley faltete den Brief wieder zusammen und steckte ihn unter jenen Teil seiner Weste, der sein Herz bedeckte. Danach setzte er sich in seinen Lieblingssessel, stopfte seine Pfeife, zündete sie an und rauchte, wobei er die ganze Zeit gedankenverloren vor sich hinstarrte.
    Vielleicht hat Marks Angst zu sterben, ehe er ein Geständnis abgelegt hat, überlegte Robert. Vielleicht will er mir erzählen, womit er Mylady erpresst hat, damit sie ihm ein Wirtshaus kauft. Vielleicht hat er ihr sogar ­geholfen, George zu töten.
    Robert schreckte davor zurück, erneut nach Essex zu fahren. Wie sollte er Clara Talboys begegnen, nun, da er das Geheimnis um das Schicksal ihres Bruders kannte. In wie viele Lügen würde er sich zu verstricken haben, wie viele Ausflüchte würde er gebrauchen müssen, um die Wahrheit von ihr fernzuhalten oder zumindest ­erträglicher machen zu können? Und zu allem Überfluss musste er sich auch noch in sie verlieben!
    Clara Talboys! Ist hinter dem ernsten Leuchten Ihrer Augen ein gnädiges Lächeln verborgen? – Was würden Sie mir antworten, wenn ich sagte, dass ich Sie so ernsthaft und aufrichtig liebe, wie ich um Ihres Bruders Schicksal getrauert habe ...
    Müde schweiften seine Gedanken ab und verloren sich in der Wärme des Raumes. Wie konnte er auf irgendetwas hoffen oder an irgendetwas denken, solange die ­Erinnerung an den nicht beerdigten Leichnam seines toten Freundes ihn wie ein Gespenst verfolgte? Was sollte er ihr sagen? Sie würde ein würdigeres Grab für ihren Bruder fordern als einen Brunnen. Doch Robert würde ihr diesen Wunsch nicht erfüllen können, denn er musste ­seinen Onkel und das Haus Audley schützen. Ein Wirrwarr in seinem Kopf, fürwahr. Sicher war nur eines: Er durfte Clara seine Zuneigung so lange nicht offenbaren, bis sie die Wahrheit über ihren Bruder erfahren hatte. Die ganze Wahrheit.
    Verdrossen ging Mr Audley im Zimmer auf und ab und wusste sich in seiner Not nicht zu helfen.

    Endlich schlugen die Uhren der Temple Church und die Uhren von St. Dunstan, St. Clement’s Danes und einer Reihe anderer Kirchen, deren Turmspitzen über den Dächern der Häuser am Fluss aufragten, zehnmal. Mr Audley, der Hut und Mantel schon beinahe eine halbe Stunde vorher ­angezogen hatte, verließ eilig seine Räume und machte sich auf den Weg nach Audley. An der Ecke der Farringdon Street hielt Robert eine Mietkutsche an und wurde eilends zur Shoreditch Station gebracht.
    Er hatte den Waggon ganz für sich allein. Ganz für sich allein? Nein, Georges Geist war bei ihm und fragte ihn unablässig, was sein Freund zu tun gedenke. Würde er ihn dort unten vermodern lassen?
    Ich muss meinem Freund ein anständiges Begräbnis zukommen lassen!, entschied Robert, während der eisige Wind über die flache Landschaft fegte und ihn mit einem so frostigen Luftzug traf, dass er den Lippen eines Toten hätte entströmen können. Doch wie?
    Es war halb zwei nachts, als Robert endlich im Dorf Audley eintraf. Und erst dort fiel ihm ein, dass Clara Talboys es versäumt hatte, ihm einen Hinweis darauf zu geben, wo er das Häuschen finden konnte, in dem Luke Marks gerade starb.
    Dawson war es, der empfohlen hat, dass der Mann zum Haus seiner Mutter gebracht werde, dachte Robert nach einer Weile. Er wird den Weg kennen.
    Dieser Überlegung folgend, hielt Mr Audley bei jenem Haus an, in dem Helen Talboys vor ihrer zweiten Heirat gelebt hatte. Die Tür der kleinen Praxis war nur angelehnt, und innen brannte ein Licht. Robert

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