Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
stieß die Tür auf und spähte hinein. „Hallo?“
Der Wundarzt stand an einem Ladentisch aus Mahagoni und mischte einen Arzneitrank in einem gläsernen Messbecher. Neben ihm lag sein Hut. So spät es auch war, er schien offensichtlich gerade erst hereingekommen zu sein. Aus einem kleinen Raum hinter der Praxis drang das gleichmäßige Schnarchen seines Gehilfen.
„Es tut mir leid, Sie zu stören, Mr Dawson“, begann Robert entschuldigend, als der Arzt aufblickte und ihn erkannte, „aber ich bin gekommen, um Marks zu sehen, der, wie ich höre, in schlechter Verfassung ist. Ich möchte Sie bitten, mir den Weg zum Haus seiner Mutter zu beschreiben.“
„Ich werde Ihnen den Weg zeigen, Mr Audley“, antwortete der Wundarzt. „Ich gehe augenblicklich selbst dorthin.“
„Dem Mann geht es also sehr schlecht?“
„So schlecht, dass es ihm gar nicht schlechter gehen könnte. Es sind nicht die Verbrennungen, die mir Sorge bereiten, sondern der Schock, der es so schlimm gemacht hat. Während der letzten zwei Tage hatte er rasendes Fieber. Auch wenn es ihm heute Abend scheinbar besser geht, fürchte ich, wird er noch vor dem morgigen Abend sein Ende erlebt haben.“
„Man hat mir berichtet, dass er mich zu sehen wünscht“, sagte Mr Audley.
„Ja“, antwortete der Wundarzt. „Ich vermute, er weiß zu schätzen, dass Sie bereit waren, ihr Leben für seines zu geben.“ Der Wundarzt ging auf der verlassenen Straße voran und bog alsbald in einen Weg ein, an dessen Ende Robert Audley einen schwachen Lichtschimmer ausmachte. Einen Lichtschimmer, der von der Wache kündete, die bei dem Sterbenden gehalten wurde. Es war ein fahler Lichtschein, der stets einen trostlosen Anblick bietet, wenn man ihn in der stillen Stunde zwischen Nacht und Morgen wahrnimmt.
Mr Dawson hob den Riegel der Tür an und betrat, gefolgt von Robert Audley, den Wohnraum der kleinen Behausung. Er war leer. Ein schwaches Talglicht brannte und tropfte auf den Tisch. „Soll ich ihm sagen, dass Sie hier sind?“, fragte Mr Dawson und ging zur kleinen Treppe.
„Ja. Sie können mich rufen, wenn Sie der Meinung sind, dass ich nach oben kommen kann.“
Der Wundarzt nickte und stieg die enge Holzstiege hinauf, die zum oberen Zimmer führte.
Robert setzte sich in einen Windsorstuhl, der neben der erloschenen Feuerstelle stand, und blickte sich um. Der Raum war klein, dennoch reichte der schwache Schein des Talglichtes nicht in die Ecke hinein. Das verblasste Zifferblatt einer Acht-Tage-Uhr schien Robert anzustarren, als wolle sie ihn aus der Fassung bringen. Schweigend lauschte Robert dem lauten, gleichmäßigen Ticken, das so klang, als zähle die Uhr die Sekunden, die dem sterbenden Mann noch verblieben, und hake jede einzelne davon mit grimmigem Vergnügen ab.
Endlich wurde Robert durch die leise Stimme des Arztes aus seiner Lage erlöst. Luke Marks sei aufgewacht und wäre froh, Robert Audley zu sehen. Leise stahl Robert sich die Treppe hinauf und nahm den Hut ab, bevor er sich bückte, um die bescheidene, einfache Kammer durch die niedrige Tür zu betreten. Er nahm seinen Hut in der Gegenwart dieses gewöhnlichen Bauersmannes ab, weil er wusste, dass da etwas anderes, weitaus Furchtbareres gegenwärtig war, das den Raum umschwebte und begierig darauf wartete, eingelassen zu werden.
Phoebe Marks saß am Fußende des Bettes. Ihre Augen waren auf das Gesicht ihres Mannes gerichtet, jedoch nicht mit einem zärtlichen Ausdruck, sondern mit dem entsetzter Angst. Sie fürchtete eher den Tod im Raum als den Verlust ihres Mannes. Die alte Frau, seine Mutter, hantierte geschäftig an der Feuerstelle, hängte Wäsche zum Trocknen auf und bereitete eine Fleischbrühe, die ihr Sohn wohl niemals mehr essen würde. Der kranke Mann lag im Bett. Sein Kopf wurde durch Kissen gestützt, das grobe Gesicht war totenbleich. Unruhig strichen seine großen Hände über die Bettdecke.
Phoebe Marks erhob sich, als Robert Audley die Schwelle überschritt, und eilte auf ihn zu. „Darf ich einen Moment mit Ihnen sprechen, Sir, bevor Sie mit Luke reden?“, flüsterte sie hastig. „Bitte lassen Sie mich zuerst mit Ihnen sprechen.“
„Was sagt das Mädchen da?“, rief der Kranke mit unterdrücktem Grollen, das heiser auf seinen Lippen erstarb. Selbst in seinem geschwächten Zustand war er, wenn auch in gedämpfter Weise, immer noch aufbrausend. Der dumpfe Glanz des Todes legte sich bereits über seine Augen, doch immer noch beobachtete er
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