Das Geheimnis der Mangrovenbucht
blickte über die graue See hinweg und überlegte, was sie für eine Närrin gewesen war.
Warum, warum nur hatte sie ihre Verlobung mit Lionel Roberts nicht schon vor Wochen gelöst? Aber abgesehen von dieser Tatsache — warum hatte sie sich überhaupt je mit ihm verlobt? Es hatte nicht lange gedauert, bis sie erkannt hatte, daß sie töricht gewesen war. Aber es hatte ihr einfach der Mut gefehlt, dies zuzugeben. Natürlich war sie etwas geschmeichelt gewesen, als dieser ehrgeizige junge Rechtsanwalt sie zu Partys mitnahm und sich anscheinend in sie verliebte. Anscheinend? Nein, das war eigentlich nicht richtig. Lionel hatte eine Zeitlang wirklich den Kopf verloren.
Aber er war sehr schnell wieder zu Vernunft gekommen, als Linda Marvell auf tauchte — mit ihrem Charme, ihrer Schönheit und ihrem Geld. Insbesondere ihrem Geld! Pauline besaß keines. Statt dessen hatte sie einen nicht besonders gutbezahlten Job und eine kränkliche Mutter, die in einem Erholungsheim lebte und der sie immer wieder einen Teil ihres Geldes schickte, sobald sie sich etwas ersparen konnte. Zugegeben, sie war nicht gerade ein guter Fang für einen ehrgeizigen Mann.
Und jetzt war ihr klar, daß Lionel schon sehr bald seinen Fehler erkannt haben mußte. Sie konnte sich sein Bedauern gut vorstellen; wenn er nur gewartet hätte... und so hatte sich allmählich, aber stetig, sein Benehmen geändert; bis gestern abend auf einer Party Pauline mit ihrem Partner ins Mondlicht hinausgetreten war und dort Linda in seinen Armen entdeckt hatte. Natürlich war damit alles beendet. Es tat ihr nur leid, daß nicht sie den ersten Schritt getan hatte.
Denn sie hatte schon vor Lindas Auftauchen gewußt, daß alles ein Irrtum war, hatte jedoch ihre Verlobung aufrechterhalten, weil sie dumm genug war, sich einzubilden, daß Lionel sie wollte, sie brauchte. Sie brauchte? Pauline lachte bitter. Was Lionel brauchte, war Geld, und das hatte er jetzt.
Der alte Dibble wandte sich um, als sie lachte, und fragte: »Was los? Ich seh’ hier nichts Komisches. Kalt und naß und irgendwo eine Leiche.«
Pauline erschrak. »Eine — eine Leiche«, stammelte sie. »Wie meinen Sie das? Ist jemand ertrunken?«
»So sagen sie. Waren heute den ganzen Tag mit Booten draußen. Haben auch die Strände abgegrast. Meiner Meinung nach ist das alles Quatsch.«
»Wieso? Glauben Sie nicht, daß der Mann ertrunken ist?«
»Weiß nicht. Er ist einfach verschwunden. Vermutlich ausgerissen. War auch das Beste, was er tun konnte, der elende Stinker. Wirklich das Beste, wenn Sie mich fragen.«
»Wie meinen Sie das? Glauben Sie, daß er abgehauen ist, weil er in Schulden war, oder in sonstigen Schwierigkeiten?«
»Schulden? Du lieber Gott! Der und Schulden! Die halbe Stadt gehört ihm. Nein, der war weder in Schulden noch ist er ersoffen, wenn Sie mich fragen.«
»Aber warum wird dann nach ihm gesucht?«
»Dieser alte Milward glaubt, daß er ertrunken sei. Behauptet zumindest, daß er seine Leiche im Wasser sehen kann.«
»Sehen?«
»Ja. Er sieht sie in einer seiner verdammten Visionen. Er nimmt dazu irgendeinen kleinen Stock, so wie die Kerle, die nach Wasser suchen.«
»Rutengänger? Aber was hat das denn mit einem Ertrunkenen zu tun?«
»Fragen Sie mich nicht. Ich nenne ihn den Hexendoktor, aber die Leute hier behaupten, er sei ein Hellseher. Sie gehen zu ihm, wenn sie Bauchweh haben oder wenn eines ihrer Tiere krank ist. Er machte alles mit Baumwollfäden.«
»So? Farbtherapie. Davon hab’ ich schon gehört.«
»Ja, so sagen die anderen; aber das ist es nicht. Er macht alle möglichen Dinge. Ein komischer alter Kauz. Hält sich für allwissend. Lebt allein mit einem alten Hund und sagt, >er gibt sich selbst für die leidende Menschheit hin<. Meiner Meinung nach spinnt er.«
»Und als dieser Mann verschwunden war, haben die Leute ihn befragt?«
»Ja, und er behauptet, die Leiche beim Wasser unten sehen zu können. Sie glauben ihm und beginnen sofort zu suchen. Aber bisher haben sie noch nichts gefunden — und wahrscheinlich werden sie auch nichts finden. Angenommen, er ist ertrunken, dann ist er vermutlich in die Zuflußströmung gekommen und wird nie wieder gesehen.«
»Wird er denn schon lange vermißt?«
»Seit zwei oder drei Tagen. Er war zwei Nächte nicht zu Hause, die kommende ist die dritte. Ein angenehmes Untertauchen, meiner Meinung nach.«
Pauline schüttelte sich. Was war das doch für ein gräßlicher, alter Mann, und wie gesprächig er plötzlich
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