Das Geheimnis der Maurin
geben würde, schluckte er im letzten Moment herunter.
Zahra erwiderte nichts, sondern wandte sich wieder dem Mashrabiya-Gitter zu. Jaime schloss die Augen und versuchte, sich ein Stück weit auf seine unverletzte Seite zu drehen. Sofort reagierten seine Schulter und sein Kopf mit einem heftigen, stechenden Schmerz. Er unterdrückte ein Aufstöhnen.
Schließlich räusperte er sich und bat sie um einen Becher Wasser. Wortlos ging Zahra zu dem kleinen Tisch, schenkte aus der Karaffe ein und reichte Jaime den Becher mit einer so heftigen Geste, dass ein Teil des Wassers auf seinen bloßen Oberkörper schwappte.
»Ach, das macht doch nichts«, brummte er automatisch und registrierte erst anschließend, dass Zahra sich gar nicht entschuldigt hatte.
»Zahra, bitte …«, setzte er an.
Doch Zahra schüttelte den Kopf und verließ das Zimmer. Ehe sie die Tür zuwarf, meinte er, das Wort Santon gehört zu haben, sicher aber war er sich nicht.
Jaime hatte Glück im Unglück: Dank Tamus Salben heilte die Stichwunde ohne Infektion ab, aber der Blutverlust hatte ihn so sehr geschwächt, dass er sich in den nächsten Tagen kaum drei Schritte weit fortbewegen konnte, ohne sich setzen zu müssen; an eine Fortsetzung der Suche nach Chalida war unter diesen Umständen nicht zu denken.
Zahra redete nur das Allernötigste mit ihm, ja, sie vermied es sogar, ihn auch nur anzusehen, und drehte ihm nachts den Rücken zu. Es war das erste Mal in ihrer achtjährigen Beziehung, dass sie nicht Arm in Arm einschliefen. Dabei wusste Zahra sehr wohl, dass Jaime trotzdem nicht tatenlos blieb: Er hatte Raschid erklärt, von wem er nähere Auskünfte über Sánchez zu bekommen hoffte, und in der Tat konnte ihr Bruder den Mann ausfindig machen – allerdings weigerte sich dieser, mit Raschid zu sprechen, weil er »nur ein verdammter Maure« war, und in ihr Haus wollte er aus demselben Grund nicht kommen. »Noch nicht einmal Ratten gehen in Maurenhäuser!« Und seinen Bruder in seine Untersuchungen einzuschalten wagte er nicht, um seinen Informanten nicht zu verschrecken.
So konnte Jaime den Mann erst treffen, wenn er sich weit genug erholt hatte, um das Haus wieder verlassen zu können. Zahra war klar, wie sehr Jaime sich verfluchte, diese Tage für die Suche verloren zu haben – aber sie verfluchte ihn deswegen nicht weniger. Noch nie in ihrem Leben hatte sie eine vergleichbare Wut verspürt und sich so ausgeliefert gefühlt, und wahrscheinlich war eben dies das Schlimmste daran: dass sie niemandem zutraute, Chalida zurückzubringen – niemandem außer ihm. Oder dem Santon …
Tamu glaubte nicht daran, dass sie den Santon ausfindig machen konnten. »Ich habe mich überall nach ihm erkundigt, aber niemand weiß, wo er ist. Hört man auf die einen, müsste man ihn in der Sierra Nevada vermuten, andere behaupten, er sei in Almería oder Málaga … Ihr verrennt Euch, Herrin, so kommt Ihr bei der Suche nach Chalida nicht weiter!«
»Aber … aber irgendjemand muss uns doch helfen können«, rief Zahra verzweifelt und lief in der engen Küche auf und ab.
Tamu rührte weiter in der Suppe, die sie seit dem Morgen vor sich hin köcheln ließ. Mit einem Mal hielt sie inne. »Die alte Najah … Vielleicht sollten wir die alte Najah um Rat bitten!«
Zahra sah sie fragend an.
»Schon Eure Mutter hat sich bisweilen an die alte Najah gewandt – natürlich immer so, dass Euer Vater nichts davon mitbekommen hatte, weil der nie etwas von Wahrsagerinnen hatte hören wollen!« In Tamus Augen trat ein listiges Leuchten. »Aber Najah hat er unrecht getan. Sie ist keiner dieser Scharlatane, sondern eine wahrhaft weise Frau! Das, was sie in ihren Kaurimuscheln sieht, wird so sicher geschehen, wie dass am nächsten Tag die Sonne wieder aufgeht!«
»Und wo … wo finde ich diese Najah?«, fragte Zahra.
»Ich bringe Euch zu ihr, gleich heute Abend!«, versprach Tamu und legte den Zeigefinger auf den Mund, weil sich jemand der Küche näherte.
Najah, die alte Wahrsagerin, hauste in einem nur aus einem einzigen Raum bestehenden Haus, dessen zwei Fenster mit schweren Vorhängen geschlossen waren. Als Tamu die Eingangstür hinter ihnen zuzog, brauchte Zahra einen Moment, bis sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Umso intensiver nahm sie die Gerüche des Raums wahr. Der markanteste war der schwere, fast narkotisierende Duft von Safran, ein Gewürz, welches, wie Zahra wusste, auch dazu benutzt wurde, um Halluzinationen zu
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