Das Geheimnis der Maurin
Schlafstatt leer war. Tamu hatte dafür plädiert, dass Jaime, solange ihm das Gehen so schwerfiel, unten im Gästezimmer schlafen sollte, damit er nicht ständig Treppen steigen musste, und auch sie selbst hatte ihm zugeredet, dass dies derzeit sicher das Beste für ihn sei. In der Tat hatte Jaime unter der Kutschfahrt sehr gelitten und den Vorschlag dankbar aufgenommen – wie er wohl alles gutgeheißen hätte, was ihm ein sofortiges ruhiges Lager verhieß. Trotzdem fehlte er Zahra jetzt, sehr sogar, und schließlich erhob sie sich, um zumindest nachzusehen, ob es ihm an nichts fehlte.
Als sie in das Gästezimmer schlich, öffnete Jaime die Augen. »Was tust du denn hier, Zahra?«, murmelte er schläfrig. »Tamu hat gesagt, du sollst dich ausruhen, und du siehst in der Tat ganz danach aus, als hättest du es bitter nötig!«
»Ach Jaime!« So vieles sollten diese beiden Worte ausdrücken, und so vieles hätte sie ihm in diesem Moment zu sagen gehabt, aber stattdessen sank sie nur neben ihn und vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter. Jaime strich ihr über das Haar und drückte sie an sich, und Zahra hoffte, dass er auch ohne Worte spürte, wie sehr sie ihn liebte und wie unendlich froh sie war, hier mit ihm in Sicherheit zu sein. Nachdem sie innig seinen Duft eingesogen hatte, sah sie wieder zu ihm auf und küsste ihn vorsichtig auf den noch immer geschwollenen Mund – und spürte, wie ihre Sehnsucht nach ihm stärker wurde. Jaime erwiderte ihren Kuss und stöhnte auf, weil sein Gesicht schmerzte, trotzdem zog er sie noch näher zu sich heran.
»Ich habe dich vermisst«, brummte er, und es klang, als meinte er damit weit mehr als nur die Tage, die sie durch seine Gefangennahme getrennt waren.
»Und ich dich erst!«, erwiderte Zahra im gleichen umfassenden Ton, sah Jaime an und hoffte mit ganzer Seele, dass das Leben auf der Seidenfarm ihnen helfen würde, wieder ein Stück weit zu einem normalen Leben zurückzufinden. Wenn sie nur erst weg von Granada waren, weg von den Kastiliern und den Veränderungen, die diese allem aufzwangen, und auch weg von ihren Erinnerungen an eine Zeit, in der ihr alles noch so einfach erschienen war … Ganz sicher würde dann alles so wie früher werden, als Jaime und sie noch auf derselben Seite gekämpft hatten!
»Ich liebe dich«, sagte Zahra leise. »Ich liebe dich so sehr!«
»Und ich dich, Zahra, und das weit mehr, als du dir vorstellen kannst!« Jaime hob seine Decke an, und Zahra kroch behutsam zu ihm. Als sie merkte, dass Jaime zusammenzuckte und nach einem weiteren, noch behutsameren Näherrücken von ihr gar schmerzhaft aufstöhnte, wollte sie schon wieder aufstehen, aber Jaime hielt sie fest. »Nein, bleib, Zahra, bleib, ich bitte dich, bleib bei mir!« Und wieder hatte sie das Gefühl, dass er mit seinen Worten nicht nur diesen Moment meinte.
Eine Weile lagen sie ganz ruhig beieinander. Sie lauschten dem Atem des anderen, spürten, wie sich ihre Brustkörbe im Gleichklang hoben und senkten und genossen ihr Zusammensein, den Frieden, die Einheit zwischen ihnen – das Einssein. Dann sagte Jaime in die Stille hinein: »Du … du kannst dir nicht vorstellen, was das für mich bedeutet hat, als Ibrahim …«
Zahra legte ihm den Finger auf die Lippen. »Doch, das kann ich, aber du solltest nicht mehr darüber nachdenken. Es ist vorbei, Jaime, für immer vorbei: Ibrahim wird nie wieder jemandem etwas antun können! Und im Endeffekt konnte ich ihn ja abwehren!«
»Aber hat er dich denn nicht auch vorher schon …«
»Nein«, beruhigte Zahra ihn. »Nur Zainab … Mein Gott, wie hat sie das nur all die Jahre mit diesem … diesem Schwein aushalten können?«
Jaime zog sie noch fester an sich. Es gab so vieles, was ihnen in der Brust brannte und sie zu gern in Worte gefasst hätten, aber sie spürten, dass jetzt der falsche Moment war. Sie waren beide noch so sehr verletzt, innerlich wie äußerlich. Was sie jetzt brauchten, war Ruhe und seliges Vergessen … Und so blieben sie still beieinander liegen und hofften, dass Allah oder Gott sie ihnen gewähren würde.
Zehn Tage später erfuhren sie, dass Ibrahim seinen Verletzungen erlegen war. Genau wie alle anderen im Haus war auch Zahra erleichtert, dass er nun nie mehr eine Bedrohung für sie darstellen konnte, aber zugleich war sie darüber erschrocken, einen Menschen getötet zu haben – und dies auf so höchst grausame Art und Weise.
»Es gab in diesem Moment nur seinen Untergang oder deinen, Zahra,
Weitere Kostenlose Bücher