Das Geheimnis der Medica: Historischer Roman (German Edition)
böser Blick, der einen verzaubern konnte.
In einer kindischen Anwandlung streckte Anna ihrem Spiegelbild die Zunge heraus und begann, ihre Kleidung anzulegen.
Der kleine, aber deutlich sichtbare Busen musste mit einer Brustbinde eingewickelt und flachgedrückt werden, bevor sie Habit und Skapulier über den Kopf ziehen konnte, die Tracht eines Novizen, die sie trug, obwohl sie als Laienbruder im Kloster war und nicht das Gelübde anstreben durfte. Bis zum heutigen Tag war es Pater Urban und ihr gelungen, das Geheimnis ihres Geschlechts zu bewahren. Das war nur möglich, weil Anna eine Sonderstellung im Kloster innehatte. Als Famulus des Infirmarius hatte sie die Zelle neben der Krankenabteilung nur für sich; sie musste die Nacht nicht im großen Schlafsaal, dem Dormitorium, verbringen wie die anderen Novizen. Außerdem hatte sie eine vom Abt persönlich ausgestellte Dispens, was die regelmäßigen Gebetsstunden anging. Schließlich war es ihre Aufgabe, Tag und Nacht da zu sein, falls einer der Kranken ihrer bedurfte.
Ihre Pflichten nahm sie sehr ernst. Sie hatte viel vom Infirmarius, dem Krankenpfleger, gelernt, und Pater Urban war stolz auf sie. Er hatte sie, seit er sie als siebenjähriges Mädchen unter dem Namen Marian im Kloster aufgenommen hatte, in allem unterrichtet, was er von der Kunst des Heilens wusste. Darin war er ein wahrer Meister. Auch war er stets bestrebt, sich weiterzubilden – natürlich innerhalb der Grenzen, die ihm der kirchenrechtliche Kanon setzte, der seit Jahrhunderten die Kunst der Medizin durch Glaube und Lehre bestimmte. Aber hin und wieder wagte er sich auch mit seinem Famulus an persönliche Forschungen, was allerdings nicht an das Ohr eines der vielen Mönche gelangen durfte, die neugierig und neidisch auf alles waren, was neu und damit ketzerisch war, und jedweden Verdacht sofort dem Abt gemeldet hätten. In der Heilpflege, in der Chirurgie, im Aderlass, im Laxieren und vor allem in der Arzneimittelkunde konnte niemand dem erfahrenen Pater Urban das Wasser reichen. Im Klostergarten war er zuständig für die Bestellung des Hortus botanicus, des botanischen Gartens, und des daran angegliederten Heilgärtleins, in dem alle Arten von Kräutern wuchsen, denen eine medizinische Wirkung zugesprochen wurde. Das Heilgärtlein war mit der Zeit Annas Revier geworden, und sie widmete sich ihm mit besonderer Sorgfalt und Hingabe.
Sie seufzte, als sie die dünne Eisschicht in der Waschschüssel sah, drückte sie vorsichtig ein und wusch sich das Gesicht ab. Als sie sich abtrocknete, klopfte es plötzlich.
Auf ihren Ruf hin öffnete sich die Zellentür, und Pater Urban trat herein.
»Ich komme schon, Pater«, sagte Anna und lächelte ihn an. Pater Urban war ein fröhlicher Mann von mehr als fünfzig Jahren, dessen weißer Bart ihm das Aussehen eines Gelehrten verlieh. Doch heute zeigte sich ungewohnter Ernst auf seinen Zügen, und Anna las ihm an den Augen ab, dass etwas nicht stimmte. Er zog die Tür der Zelle sanft hinter sich ins Schloss.
»Ich habe mit dir zu reden, Anna«, sagte er mit leiser Stimme.
Anna sah ihn besorgt an. Er wandte den Blick ab, und schob mit dem Fuß die Kohlenpfanne zur Seite. Wenn er sie mit »Anna« anredete und nicht mit »Bruder Marian«, wie sie sonst genannt wurde, musste etwas Ernsthaftes vorgefallen sein. Der Prior packte die Kohlenpfanne am Stiel, fasste mit der Hand hinein und rieb ihr etwas Asche ins Gesicht. Anna rührte sich nicht.
»So. Jetzt siehst du eher wieder wie Bruder Marian aus. Und nicht wie ein Mädchen.« Er strich ihr nachdenklich eine Haarsträhne aus der Stirn.
»Ist etwas passiert, Pater Urban?«, fragte sie.
»Gott will uns prüfen, fürchte ich«, seufzte er aus tiefster Seele und drückte sanft seinen Zeigefinger auf ihre Lippen, um sie zum Schweigen zu bringen. »Nicht hier.«
Der Prior öffnete die Tür, blickte forschend in den Gang hinaus und nickte dann.
»Folge mir, Bruder Marian«, befahl er laut.
Er ging hinaus. Anna zögerte kurz, versteckte das Stück Metallblech, das den aufmerksamen Blicken des Paters nicht entgangen war, wieder unter der Matratze und folgte dem Prior und Infirmarius .
Sie eilten durch den Krankenbereich in den zugigen Kreuzgang, wo sie zwei Novizen begegneten, die sich offensichtlich verspätet hatten und mit wehendem Habit zur Prim eilten. Als sie den Prior sahen, verlangsamten sie ihren unangemessenen Laufschritt und verneigten sich respektvoll. Zu anderer Zeit hätte Pater Urban sie
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