Das Geheimnis der Medica: Historischer Roman (German Edition)
streng zurechtgewiesen, aber heute nickte er nur geistesabwesend und schlug den Weg zur großen Halle des Abtes ein, die er während dessen Abwesenheit als Arbeits- und Empfangsraum für Besucher benutzte. Der Abt des Klosters Heisterbach war schon vor Wochen zum Erzbischof nach Köln beordert worden, unter dessen Vorsitz ein Generalkapitel abgehalten wurde, das kein Ende nehmen wollte, denn bei den Versammlungen des Ordens fanden zahlreiche Ketzerprozesse statt.
Prior Urban öffnete die Tür zur Empfangshalle, wartete, bis Anna eingetreten war, und schloss sie dann überaus sorgfältig hinter ihr. Anna hatte die Empfangshalle des Abtes bisher erst zwei- oder dreimal betreten und staunte auch heute wieder über die Pracht des gewaltigen Raumes. Die Halle war fast so groß wie das Seitenschiff der Klosterkirche, mit prächtigen Wandwirkereien, die die Passion Christi zeigten, und einem offenen Kamin, in den ihre ganze Zelle gepasst hätte.
Neben dem prasselnden Kaminfeuer, um das halbkreisförmig ein paar Stühle gruppiert waren, stand ein mächtiger Eichenschreibtisch. Dort, im hinteren Drittel des Raumes, wartete ein ärmlich gekleidetes Paar. Der Mann, hager, grauhaarig und barhäuptig, knetete an seiner Kopfbedeckung herum. Seine zierliche Frau blickte den Ankömmlingen bang und erwartungsvoll entgegen. Bei Annas Anblick fingen der alte Mann und seine Frau an zu strahlen.
Anna zögerte kurz, so überrascht war sie, ihre Eltern wiederzusehen. Dann schossen ihr Tränen der Freude in die Augen.
»Mutter! Vater!«
Sie rannte auf die beiden zu und umarmte zuerst ihre Mutter fest und innig und küsste sie auf beide Wangen. Die Mutter wollte sie gar nicht mehr loslassen, aber Anna wandte sich ihrem Vater zu und fiel auch ihm um den Hals. Der Vater kämpfte ebenfalls mit den Tränen. Dann schob er Anna auf Armeslänge von sich weg und musterte liebevoll ihr aschebeschmutztes Gesicht. Bevor er jedoch etwas sagen konnte, legte der Prior warnend den Zeigefinger auf seine Lippen.
»Kein lautes Wort!«, sagte er in gedämpftem Ton, »die Wände haben Ohren! Nehmt Platz.«
Er wartete, bis Anna und ihre Eltern sich gesetzt hatten und ihn erwartungsvoll ansahen, wobei die Mutter Annas Hand fest drückte und ihren Blick nicht mehr von der Tochter wenden wollte.
Prior Urban blieb stehen und räusperte sich.
»Wie lange ist es jetzt her, dass Ihr Anna in meine Obhut gegeben habt?«
»Es werden gut zehn Jahre sein, Euer Gnaden«, antwortete der Vater mit belegter Stimme.
»Eine lange Zeit. Doch alles hat eine bestimmte Stunde, und jedes Ding unter dem Himmel seine Zeit.«
Er sah Anna an. »Und deine Zeit ist nun gekommen, Anna.«
Die Eltern nickten schweigend und ergeben. Anna hingegen sah den Prior stumm an, mit leichtem Misstrauen, und wartete auf eine Erklärung.
Der Prior fuhr fort: »Anna, du bist jetzt sechzehn Jahre alt und kein Kind mehr. Schon lange nicht mehr. Und ich fürchte, dass du deine … deine Weiblichkeit nicht länger verbergen kannst.«
Anna wollte widersprechen und setzte schon zu einer Verteidigungsrede an, aber der Prior gebot ihr mit einer Handbewegung zu schweigen.
»Das ist eine unleugbare Tatsache. Deshalb habe ich deine Eltern um dieses Treffen gebeten. Wir müssen gemeinsam beschließen, was zu tun ist. Hoher Besuch hat sich angekündigt, und ich kann nicht ausschließen, dass bei dieser Gelegenheit das Unterste zuoberst gekehrt wird.«
»Etwa Seine Eminenz, der Erzbischof?«, platzte Anna heraus.
Pater Urban nickte. »Erzbischof Konrad von Hochstaden höchstpersönlich. Ich fürchte, dieses Mal wird es nicht dabei bleiben, dass er meine Bücher und Bilanzen überprüft. Gerüchten zufolge plant er einige grundsätzliche Änderungen.«
Pater Urban fasste Anna sanft an den Schultern und sah ihr eindringlich in die Augen.
»Du warst mir immer wie eine Tochter, Anna. Ich habe dich alles gelehrt, was ich über die Heilkunde weiß. Eine bessere und eifrigere Famula wie dich hätte ich mir niemals wünschen können. Aber niemand im Kloster darf dahinterkommen, was es mit der Abmachung, die deine Eltern und ich damals vor über zehn Jahren getroffen haben, auf sich hat. Dein Vater und deine Mutter haben dich vertrauensvoll in meine Obhut gegeben, weil sie in dir etwas Besonderes sahen. Und damit haben sie recht getan. Auch wenn es manchmal nicht ganz einfach war, dich als Jungen auszugeben. Wenn deine wahre Natur jemals ans Licht des Tages kommen sollte – dann gnade uns allen Gott!«
Er
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