Das Geheimnis der Monduhr: Roman (German Edition)
folgte mit dem Finger der Aufwärtsbewegung der Figur, darauf gefasst, dass sich irgendwo in der Generationenfolge eine Lücke zeigen würde. Mit unbarmherziger Deutlichkeit wurde ihr klar, dass sie die falsche Entscheidung getroffen hatte. Ihr wurde übel, Gewissensbisse und bittere Reue schlugen über ihr zusammen. In diesem Augenblick hätte sie in Singapur aus dem Flugzeug steigen und Tom wiedersehen sollen, und dann hätten
sie irgendwann ein Kind der Liebe gezeugt, einer Liebe, die viele Generationen weiterleben würde. Das wäre die richtige Entscheidung gewesen, der richtige Weg. Wenn sie nur die Uhr zurückdrehen, sich noch einmal anders entscheiden könnte, aber die Zeit war endgültig abgelaufen. Ihr Puls fing an zu flattern, als ihr bewusst wurde, wie sehr sie Libby liebte und alles für sie tun würde. Sie war eine gute Mutter, sie hatte es nur zu spät erkannt.
Holly stutzte. Sie würde jetzt zwar aus dem Flugzeug steigen, der Zeitpunkt, an dem Libby gezeugt oder nicht gezeugt wurde, lag aber noch in der Zukunft. Die Stelle, an der sich die beiden Wege trennten, war noch nicht erreicht. Ihre Vision war zwischen zwei möglichen Realitäten hin und her gesprungen, die Zukunft noch nicht festgelegt. Wie denn auch? Holly blieb beinahe das Herz stehen, als sie begriff, dass vielleicht noch Zeit war, alles wieder ins Lot zu bringen.
»Was willst du?« Diesmal war Jocelyn entsetzt.
Holly war zum Telefon gestürzt und wählte hektisch eine Nummer nach der anderen, als Jocelyn auftauchte. Sie war unter dem Vorwand gekommen, ein paar Einkäufe bei Holly deponieren zu müssen, in Vorbereitung auf das Weihnachtsfrühstück, das bei Holly stattfinden, aber von Jocelyn zubereitet werden sollte. In Wirklichkeit wollte sie nur bei Holly nach dem Rechten sehen, und ihr war augenblicklich klar, dass ihre Sorge berechtigt gewesen war.
»Ich will nach Singapur fliegen«, bestätigte Holly. Sie wusste, dass es nicht leicht sein würde, Jocelyn zu erklären, warum sie sich plötzlich anders entschieden hatte,
und insgeheim hatte sie gehofft, erst damit herausrücken zu müssen, wenn alles geregelt wäre. Leider waren ihre Bemühungen, so kurz vor Weihnachten noch einen Flug nach Singapur zu erwischen oder wenigstens Tom aufzutreiben, bisher erfolglos geblieben, aber sie gab sich nicht so leicht geschlagen.
»Das verstehe ich nicht«, stotterte Jocelyn. Sie war kreidebleich geworden. »Das kannst du nicht machen. Und wenn du schwanger wirst?«
»Genau deshalb muss ich hin, Jocelyn. Ich bin ihre Mutter, und es ist meine Aufgabe, sie zu beschützen. Libbys Wohlergehen ist mir wichtiger als mein Wunsch, am Leben zu bleiben, wichtiger als der Wunsch, Tom vor all dem Kummer zu bewahren. Meine Tochter steht an erster Stelle, das weiß ich jetzt. Ich habe lange gebraucht, um das zu begreifen.« Wärme durchströmte Hollys Herz, als sie es aussprach. »Ich will schwanger werden und Libby eine Chance geben.«
Jocelyn war auf ihrem Stuhl zusammengesunken und sah Holly ungläubig an. »Weißt du überhaupt, was du da sagst? Du sprichst vom Tod. Die Monduhr wollte dich retten. Die Monduhr war ein Geschenk, um dich vor dem Tod zu bewahren, Holly. Wirf es nicht weg. Ich beschwöre dich.« Jocelyns Stimme versagte.
»Ja, sie ist ein Geschenk, das weiß ich mittlerweile auch. Sie hat mir nicht nur gezeigt, wie man sich als Mutter fühlt, sondern auch, dass ich eine gute Mutter sein kann, dass die Geschichte sich nicht zwangsläufig wiederholen muss. Ich kann es besser machen als meine Mutter. Meine Mutter war zu keinem Opfer bereit, nicht zu dem allerkleinsten.
Ich bin bereit, alles herzugeben. Das ist mein sehnlichster Wunsch. Und du musst mir dabei helfen.«
Jocelyn ergriff Hollys Hand und versuchte es mit Argumenten. »Aber du weißt doch gar nicht, wie die Zukunft aussieht. Du hast ein leeres Haus gesehen, das besagt nichts.«
Holly lächelte, als könnte sie Jocelyn damit beweisen, dass sie nicht völlig den Verstand verloren hatte. »Du verstehst mich nicht. Es geht nicht darum, was die Zukunft mir bringt. Ich weiß es nicht, und es interessiert mich auch nicht mehr. Libby ist meine Tochter, sie ist mein Fleisch und Blut. Jetzt vielleicht noch nicht, aber ich habe sie gesehen und im Arm gehalten. Ich kenne ihren Babygeruch, ich kenne jede einzelne blonde Locke. Ich weiß, dass ich alles tun würde, um sie zu beschützen. Alles, Jocelyn.«
Jocelyn schüttelte den Kopf. »Es ist aber zu spät. Du kommst nicht mehr
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