Das Geheimnis der Monduhr: Roman (German Edition)
Halt.
Sie hatte das Gefühl, in ihrem Kummer um Libby zu
versinken und unter der Last der Schuld zusammenzubrechen. Es war allein ihre Entscheidung gewesen, auf Libby zu verzichten, und jetzt war sie für immer verloren. Trotzdem wagte Holly nicht, die Monduhr loszulassen und den Weg zu beschreiten, der vor ihr lag. Ein Weg, der einen mörderischen Zoll von ihr verlangte und ihr solche Angst einjagte, dass sie glaubte, verrückt zu werden.
Holly presste die Augen zusammen, als sie versuchte, sich an Libbys Gesicht zu entsinnen, an alle Einzelheiten, ihren Geruch, den Klang ihrer Stimme, ihren Atem, als sie sich an Hollys Schulter geschmiegt hatte. In der Dunkelheit der Nacht wärmte Holly sich an den Erinnerungen an Libby, bis ihr wohlige Schauer über den Rücken liefen. Die wenigen kostbaren Augenblicke, die sie mit ihrer Tochter geteilt hatte und an die sich klammerte, halfen ihr im Kampf gegen die Verzweiflung. Sie atmete noch einmal tief ein. Die eisige Luft weckte schlagartig wieder ihre Lebensgeister, und sie schaffte es endlich, die Monduhr loszulassen.
Es war mitten in der Nacht, der Sonnenaufgang noch lange nicht in Sicht. Der Garten lag im Dunklen, nur das Licht aus der Küche warf ein paar Schatten. Aber Hollys Ziel war nicht die Küche, sie schlug hastig und stolpernd den Weg zum Atelier ein.
Sie blinzelte, als sie Licht machte. Die Fotos, die von der Decke baumelten, tanzten mit ihren fröhlichen Gesichtern im Luftzug, der durch die offene Tür strich, wie bizarre Gestalten in einem Gruselkabinett. Es war, als wollten sie sich über Holly lustig machen und ihr ein Glück vorgaukeln, das für immer dahin war. Kopflos fummelte sie
an den Schaltern, bis das Licht gedämpft und die Fotos wieder in der Dunkelheit verschwunden waren.
Entschlossen wandte sie sich der schemenhaften Figur in der Mitte des Ateliers zu. Es war die Skulptur von Mutter und Kind, über die sie ein Tuch geworfen hatte. Zerknirscht zog sie das Tuch ab. Alle Figuren auf dem spiralförmigen Sockel blickten nach oben zu dem Kind, das die Mutter in den erhobenen Armen hielt, und Holly folgte ihren Blicken. Ihre Beine gaben nach, die letzte Kraft, mit der sie sich hergeschleppt hatte, war verbraucht.
Holly kniete vor der Statue, an die sie sich wie ein verirrtes Kind klammerte, und konnte die Augen nicht von dem Baby wenden. Wie sollte sie diesen Schmerz ein Leben lang aushalten? Sie begriff allmählich, dass sie diese Last allein tragen musste. Sollte sie Tom irgendwann davon erzählen, müsste er mit seinem eigenen Gefühlschaos fertigwerden, doch er würde niemals durch dieselbe Hölle gehen wie sie. Die Schuld lag bei ihr, bei ihr ganz allein. Und es war keineswegs sicher, dass ihre Beziehung den unvermeidlichen Bruch aushalten würde. Vielleicht war es das, was sie so in Panik versetzt hatte, als sie durch das leere Haus geirrt war. Würden nur Kinder in ihrem Leben fehlen, oder würden sie sich selber aus den Augen verlieren?
Holly war ganz wirr im Kopf von den vielen Fragen, sie sehnte sich nach Tom, der sie einfach in die Arme nehmen und ihr versichern würde, dass alles wieder gut werden würde. Holly fühlte sich so einsam wie seit ihrer Kindheit nicht mehr. Es war, als würde der Damm, den sie gegen ihre Gefühle aufgerichtet hatte, endgültig brechen. Das erste Schluchzen war nicht mehr als ein klägliches Aufheulen,
aber dann flossen die Tränen wie ein Sturzbach und hörten nicht wieder auf. Als die fahle Winterdämmerung durch die Dachfenster des Ateliers sickerte, glitt Holly weinend in einen unruhigen Schlaf, in der Hoffnung, Libby wiederzusehen, doch ihre Tochter kehrte nicht einmal in ihre Träume zurück.
Stattdessen träumte Holly davon, wie die Zeit verstrich. Hunderte von Uhren starrten sie an, deren spinnenfingrige Zeiger sich drehten und wirbelten, knackten und knisterten, in endlosen Kreisen, ohne Anfang und Ende.
Holly wachte auf, als der Regen im Takt mit ihrem klopfenden Herzen auf das Dach des Ateliers trommelte. Eine unbegreifliche Panik erfasste sie, und sie blickte zu der Skulptur hoch, als könnte sie dort die Antwort finden. Die Figur der Mutter hielt das Baby in die Luft, dem Leben entgegen, das vor ihm lag. Diese Mutter war Holly für einen kurzen Augenblick gewesen, und diesen Augenblick hatte sie in ihrem Werk verewigt. Aber dann hatte Holly einen anderen Weg gewählt und das bezaubernde Geschöpf, das sie angelächelt und Mama zu ihr gesagt hatte, dafür hergegeben.
Holly stand auf und
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