Das Geheimnis der Moorleiche
Rettung. So würden wir
zumindest als junge Erwachsene von den Eltern unabhängig sein, dachten wir.
Dass unsere Eltern die Erbschaft längst verprassten, war nur die Spitze des
Eisbergs. Michael war so wütend, dass er sich mit dem Schlüssel im Moor
versteckt hat.«
»Und dort kam es zu dem Streit
zwischen Ihnen und Michael.«
»Er wollte das restliche Geld
lieber spenden oder im Moor versenken, als dass es weiterhin unsere Familie
zerstörte. Ich wollte aber meinen Anteil retten und damit endlich weg von
meiner Familie. Irgendwo anders neu anfangen. Ich wollte Kunst studieren...«
Frank Schustmanns Erzählung
brach ab. Alle Anwesenden warteten schweigend, bis er fortfuhr.
»Michael war so wütend. Er
fand, ich ließe ihn im Stich, und sei genau so geldgierig wie unsere Eltern. Er
wollte mir den Schlüssel nicht geben. Also fingen wir an zu kämpfen. Wir waren
wie besinnungslos, alles Schlimme, das uns in unserer Kindheit widerfahren war,
brach aus uns heraus. Wir haben nicht mal richtig gemerkt, wie wir beide ins
Moor gefallen sind...«
Draußen im Flur kullerte Gaby
eine Träne über die Wange. Schustmann fuhr fort.
»Wir haben weitergekämpft.
Irgendwann nicht mehr um den Schlüssel, sondern ums Überleben. Ich war älter
und stärker als er. Trotzdem konnte ich ihm nicht helfen...«
Stumm sah Kommissar Glockner
Frank Schustmann einen langen Moment lang an.
»Und mit Ihrem Bruder ging der
Schlüssel unter.«
Schustmann nickte.
»Ich wollte das Geld jetzt auch
nicht mehr, sondern nur noch weg. Ich habe dann eine Friseurlehre gemacht,
statt Kunst zu studieren. Dass ich niemand von Michaels Unfall erzählt habe,
war meine Rache an unseren Eltern. Ich bin nie wieder in mein Elternhaus
zurückgekehrt. Bis vor zwei Wochen...«
»Warum ausgerechnet jetzt?«
»Meine Eltern sind schon vor
zwei Jahren gestorben und ich habe das Haus geerbt. Das Haus ist schwer mit
Schulden belastet — Schulden, die ich nicht bezahlen kann. Am Theater verdient
man nur gerade so viel, wie man zum Leben braucht. Die einzige Hoffnung war für
mich der Safe im Wohnzimmer. Ich hoffte, darin befände sich noch der Rest der
Erbschaft. Den Schlüssel hatte ja Michael, und angeblich gab es keinen Zweiten.
Ich war so verzweifelt, dass ich Michael im Moor gesucht habe, um an den
Schlüssel zu gelangen. Doch dann kamen der Hund und die Kinder — ich wusste ja,
dass ich keine gute Erklärung dafür hatte, eine Moorleiche auszugraben, also
bin ich weggelaufen und habe mich versteckt. Den Rest der Geschichte kennen
Sie...«
Glockner hörte sich alles an
und seufzte.
»Aber der Safe war am Ende
leer.«
Frank Schustmann nickte
ausdruckslos.
»Ich nehme an, mein Vater hatte
noch einen zweiten Schlüssel. Meine Eltern haben das ganze Geld verbraucht.
Alles, was damals geschehen war, war vollkommen sinnlos. Sogar unser Kampf um
den Schlüssel...«
Draußen im Flur schmiegte Gaby
sich an Tim.
»Das ist also das Geheimnis der
Moorleiche...«
Michaels Schicksal tat Tim sehr
leid. Doch er war froh, dass das Rätsel um ihn nun endlich gelöst war.
Im Verhörraum seufzte Glockner
abermals. Er glaubte diesem Schustmann, auch wenn der die Polizei die ganze
Zeit an der Nase herumgeführt hatte. Doch natürlich würde der Kommissar die
Geschichte erst noch überprüfen müssen. Er blickte Schustmann durchdringend an.
»Auch wenn das alles so gewesen
ist — eine Frage bleibt unbeantwortet. Wo ist die Leiche Ihres Bruders jetzt?«
Frank Schustmann zuckte ratlos
die Schultern.
»Ich weiß es ebenso wenig wie
Sie.«
Tim sah über Gabys Schulter den
Gang herunter. Klößchen und Karl eilten in Begleitung eines Beamten in die
Eingangshalle. Karl winkte wie wild mit beiden Armen.
»Wir haben sie! Wir haben
sie!«, rief er aufgeregt.
»Wir wissen, wo die Moorleiche
ist«, fügte Klößchen erklärend hinzu.
Im Verhörraum blickten alle
Anwesenden überrascht auf.
»Das sind doch wieder die
Freunde meiner Tochter!«, stöhnte Kommissar Glockner. »Sind die denn immer noch
nicht im Bett?«
Mit Blaulicht rasten mehrere
Polizeiwagen durch die Nacht.
In einem von ihnen saßen Tim, Gaby, Klößchen und Karl in die Sitze gepresst wie
in einer Achterbahn. Kommissar Glockner saß am Steuer. Klößchen erschauderte.
Sein Bauch fühlte sich an, als ob Hunderte von Schmetterlingen darin
herumflatterten. Karl nestelte unentwegt an seiner Brille herum, und Gaby kniff
Tim, der vorne saß, in die Schulter — eine rasante Fahrt mit Blaulicht war
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