Das Geheimnis der Schnallenschuhe
dabei, von einem alten Brief, der zwei Monate zurücklag, den Absender zu notieren.
«Vielleicht wissen die Leute etwas über sie», sagte er. «Wohnen draußen in Hampstead. Der Brief klingt, als ob es ziemlich gute Bekannte wären.»
Es ließ sich im Glengowrie Court Hotel nichts weiter ermitteln, ausgenommen die Feststellung, dass Miss Sainsbury Seale beim Ausgehen in keiner Weise einen erregten oder bekümmerten Eindruck gemacht hatte. Eine baldige Rückkehr lag offensichtlich in ihrer Absicht, denn sie hatte auf dem Weg durch die Halle ihrer neuen Freundin, Mrs Bolitho, zugerufen: «Nach dem Essen werde ich Ihnen die Patience zeigen, von der ich Ihnen erzählt habe!»
Aber sie war nicht zurückgekehrt. Sie war die Cromwell Road hinuntergegangen und verschwunden. Japp und Poirot begaben sich zu den Leuten in West-Hampstead, deren Adresse sie auf dem Brief gefunden hatten.
Es war ein freundliches Haus, und die Familie Adams bestand aus zahlreichen freundlichen Leuten. Jahrelang hatten sie in Indien gelebt, und mit Wärme sprachen sie von Miss Sainsbury Seale. Aber helfen konnten sie nicht.
Sie hatten sie in der letzten Zeit nicht mehr gesehen, einen ganzen Monat nicht, seit sie aus den Osterferien zurückgekommen waren. Damals hatte sie in einem Hotel nahe dem Russell Square gewohnt. Mrs Adams gab Poirot die Adresse dieses Hotels und auch die Adresse einer anderen mit Miss Seale befreundeten angloindischen Familie, die in Streatham wohnte. Aber auch diese beiden Adressen erwiesen sich als Fehlschläge. Miss Sainsbury Seale hatte zwar in dem fraglichen Hotel gewohnt, aber man erinnerte sich dort an nichts, was irgendwie von Wert war. Eine nette, ruhige Dame, die vorher im Ausland gelebt hatte. Auch die Leute in Streatham konnten keine Auskunft geben. Sie hatten Miss Seale seit Februar nicht mehr gesehen.
Blieb noch die Möglichkeit eines Unfalls, aber auch diese löste sich in nichts auf. In keinem Krankenhaus fand sich jemand, der der abgegebenen Beschreibung entsprach.
Miss Seale war spurlos verschwunden.
Am folgenden Morgen ging Poirot ins Holborn Palace Hotel und fragte nach Mr Howard Raikes.
Er wäre kaum überrascht gewesen, hätte man ihm gesagt, dass auch Mr Howard Raikes eines schönen Abends ausgegangen und nicht zurückgekommen sei. Mr Howard Raikes wohnte jedoch noch im Holborn Palace; es hieß, er sei gerade beim Frühstück.
Das Auftauchen Hercule Poirots im Speisesaal schien Mr Raikes nur ein zweifelhaftes Vergnügen zu bereiten. Er sah zwar nicht mehr ganz so mordlustig aus wie in Poirots undeutlichem Erinnerungsbild, machte aber immer noch einen äußerst finsteren Eindruck. Er starrte den ungeladenen Gast an und sagte unliebenswürdig: «Was zum Teufel wollen Sie von mir?»
«Sie gestatten?»
Poirot zog sich einen Stuhl vom Nebentisch heran.
Mr Raikes sagte: «Lassen Sie sich durch mich nicht stören! Nehmen Sie Platz und tun Sie, als ob Sie zu Hause wären!»
Lächelnd machte Poirot von der Erlaubnis Gebrauch.
Ungnädig wiederholte der junge Mann: «Also, was wollen Sie?»
«Erinnern Sie sich an mich, Mr Raikes?»
«Habe Sie in meinem Leben noch nicht gesehen.»
«Da irren Sie sich. Vor drei Tagen haben Sie wenigstens fünf Minuten lang mit mir im gleichen Zimmer gesessen.»
«Ich kann mich nicht an jeden Menschen erinnern, mit dem ich auf irgendeiner verdammten Gesellschaft zusammenkomme.»
«Es war keine Gesellschaft», sagte Poirot. «Es war im Wartezimmer eines Zahnarztes.» Eine plötzliche Erregung flammte in den Augen des jungen Mannes auf, erstarb aber sofort wieder. Sein Verhalten änderte sich. Er war nicht mehr ungeduldig und gleichgültig. Er war plötzlich auf der Hut.
«Und – », fragte er lauernd.
Poirot beobachtete ihn prüfend, ehe er antwortete. Er hatte das ganz bestimmte Gefühl, dies sei wirklich ein gefährlicher junger Mann. Ein schmales, asketisches Gesicht, ein aggressives Kinn, fanatische Augen. Aber es war ein Gesicht, das Frauen vielleicht anziehend fanden.
In Gedanken fasste Poirot seinen Eindruck zusammen: Ein Wolf mit Ideen…
Grob fragte Raikes: «Was wollen Sie eigentlich von mir, zum Teufel?»
«Mein Besuch ist Ihnen unangenehm?»
«Ich weiß nicht einmal, wer Sie sind.»
«Ich bitte um Entschuldigung.»
Wie ein Taschenspieler förderte Poirot eine Visitenkarte zutage und reichte sie über den Tisch.
Von neuem spiegelten Mr Raikes’ Züge jene Empfindungen wider, die Poirot nicht deuten konnte. Es war nicht Furcht – eher
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