Das Geheimnis der Schnallenschuhe
Morley war tot, aber die Identifizierung ließ sich trotzdem ermöglichen. Sie kennen das Ergebnis. Die Leiche wurde bei der Totenschau durch Mr Morleys Nachfolger als diejenige von Mrs Albert Chapman identifiziert.»
Blunt verriet Zeichen der Ungeduld, aber Poirot beachtete sie nicht. Er fuhr fort: «Nun stand ich vor einem psychologischen Problem. Was für eine Art Frau war Mabelle Sainsbury Seale? Auf diese Frage gab es zwei Antworten. Die erste war die nächstliegende, die durch Mabelles ganzes Leben in Indien und durch das Zeugnis ihrer persönlichen Bekannten gegeben wurde. Danach war sie ein gewissenhaftes, ernstes, etwas törichtes Wesen. Gab es noch eine andere Sainsbury Seale? Anscheinend ja. Es gab die Frau, die mit einem bekannten ausländischen Agenten zu Mittag aß; die Frau, die Sie, Mr Blunt, unter der offensichtlich falschen Vorspiegelung, sie sei eine enge Freundin Ihrer Frau gewesen, auf der Straße ansprach; die Frau, die Morleys Haus verließ, unmittelbar bevor dort ein Mord begangen wurde; die Frau, die eine andere just an dem Abend besuchte, an dem diese höchstwahrscheinlich ermordet wurde; die Frau, die seither verschwunden war, obwohl die gesamte Polizeimacht Englands nach ihr suchte. Ließen sich alle diese Handlungen mit dem Leumund vereinbaren, den ihre Freunde ihr ausstellten? Anscheinend doch nicht. Wenn also Miss Sainsbury Seale nicht das gute, liebenswerte Geschöpf war, als das sie erschien, dann war sie möglicherweise eine kaltblütige Mörderin oder zumindest Helfershelferin.
Noch etwas stand mir zur Verfügung: mein eigener persönlicher Eindruck. Ich hatte selbst mit Mabelle Sainsbury Seale gesprochen. Wie hatte sie auf mich gewirkt? Und auf diese Frage, Mr Blunt, war die Antwort am schwersten zu finden. Alles, was sie gesagt hatte, ihre Sprechweise, ihr Auftreten, ihre Bewegungen – alles entsprach völlig der Persönlichkeit, als die sie uns geschildert worden war.
Aber gleichzeitig passte all das ebenso gut auf eine geschickte Schauspielerin, die sich in eine bestimmte Rolle hineingelebt hat. Und schließlich hatte ja Mabelle Sainsbury Seale ihre Laufbahn als Schauspielerin begonnen! Stark beeindruckt war ich von einem Gespräch, das ich mit Mr Barnes aus Ealing führte – auch er war an dem betreffenden Tag in der Queen Charlotte Street zur Behandlung gewesen. Seine Theorie, die er sehr nachdrücklich vertrat, ging dahin, dass die Morde an Morley und Amberiotis sozusagen nur Randerscheinungen waren, und dass Sie, Mr Blunt, das beabsichtigte Opfer darstellten.»
«Ach, gehen Sie, das ist doch ein bisschen weit hergeholt!», meinte Alistair Blunt wegwerfend.
«Wirklich, Mr Blunt? Stimmt es nicht, dass es augenblicklich mehrere politische Gruppen gibt, für die es eine Existenzfrage ist, dass Sie – sagen wir – beseitigt werden?»
«Ja, das ist schon richtig. Aber was soll das mit der Ermordung Morleys zu tun haben?»
«Dieser Fall weist einen bestimmten – wie soll ich mich ausdrücken – verschwenderischen Zug auf. Die Kosten spielen keine Rolle – auch Menschenleben spielen keine Rolle. Ja, wir stehen hier vor einer Kühnheit und Rücksichtslosigkeit, die auf ein wahrhaft großes Verbrechen hindeuten!»
«Sie glauben also nicht, dass sich Morley wegen eines Irrtums erschossen hat?»
«Ich habe das nie geglaubt – keine Sekunde lang. Nein: Morley wurde ermordet, Amberiotis wurde ermordet, die unkenntlich gemachte Frau wurde ermordet. Und warum? Um eines bestimmten hohen Einsatzes willen. Barnes neigte zu der Theorie, man habe versucht, Morley oder seinen Partner zu bestechen, Sie aus dem Weg zu räumen.»
«Unsinn!», sagte Alistair Blunt scharf.
«Ah – ist es wirklich Unsinn? Nehmen wir an, es soll jemand aus dem Weg geräumt werden. Ja, aber der Betreffende ist gewarnt, gewappnet, und man kommt schwer an ihn heran. Um einen solchen Menschen umzubringen, muss man es so einrichten, dass man zu ihm gelangt, ohne seinen Verdacht zu erregen. Wäre das Sprechzimmer des Zahnarztes dafür nicht der ideale Ort?»
«Ja, das dürfte stimmen. Von dieser Seite habe ich die Sache noch nie betrachtet.»
«Sicher stimmt es. Und als mir das aufgegangen war – da sah ich zum ersten Mal einen Schimmer der Lösung vor mir.»
«Sie haben sich also die Theorie des Mr Barnes zu Eigen gemacht? Wer ist übrigens dieser Barnes?»
«Barnes war Reillys Zwölf-Uhr-Patient. Er ist pensionierter Beamter des Innenministeriums und wohnt in Ealing. Ein unauffälliger kleiner Mann.
Weitere Kostenlose Bücher