Das Geheimnis Der Schönen Toten
es scheint, greife ich den Dingen vor.«
»Nein, Vater, ich bin mir noch nicht sicher. Und ich werde Euch nicht wieder behelligen, bis ich sicher bin.«
»Du möchtest also die Luft von Longner atmen, bevor du eine Entscheidung fürs Leben triffst, und deine vertraute Umgebung, deine Familie und Freunde zu dir sprechen lassen, so wie unser Leben hier gesprochen hat. Anders hätte ich es gar nicht haben wollen«, sagte der Abt. »Natürlich darfst du deine Familie besuchen. Geh in Frieden. Es wäre noch besser, du würdest wieder in Longner schlafen und dir gut überlegen, was du dort gewinnen, aber auch verlieren kannst. Vielleicht brauchst du sogar noch mehr Zeit. Wenn du dich entschlossen hast und dir deiner Entscheidung sicher bist, dann komm zu mir und sag mir, welchen Weg du gewählt hast.«
»Das werde ich, Vater«, erwiderte Sulien. Er sagte es in dem Tonfall, den er während seines mehr als einjährigen Noviziats als selbstverständlich hinzunehmen gelernt hatte, demütig, pflichtbewußt und ehrerbietig, aber sein ausweichender Blick fixierte ein Ziel in der Ferne, das nur für ihn sichtbar war, wie es dem Abt erschien, der in dem mönchischen Gesicht so gut zu lesen verstand, wie Sulien sich dahinter zu verbergen wußte.
»Dann geh, und wenn du willst, jetzt gleich.« Er besann sich, welch langen Fußmarsch dieser junge Mann vor kurzem hatte machen müssen, und fügte ein kleines Zugeständnis hinzu. »Nimm dir ein Maultier aus dem Stall, falls du jetzt schon aufbrechen willst. Und sag Bruder Cadfael, daß du Erlaubnis hast, bis morgen zu bleiben.«
»Das werde ich, Vater!« Sulien erwies dem Abt seine Reverenz und machte sich mit einer zielstrebigen Bereitwilligkeit auf den Weg, die Radulfus leicht amüsiert, aber auch mit einigem Bedauern bemerkte. Es hätte sich gelohnt, den Jungen zu behalten, wenn es wirklich seiner Neigung entsprochen hätte, aber Radulfus kam immer mehr zu der Überzeugung, ihn schon verloren zu haben. Seit seiner Entscheidung für das Kloster war er schon einmal auf Longner gewesen, um den Leichnam seines Vaters nach der Niederlage bei Wilton zur Beisetzung nach Hause zu bringen, war bei der Gelegenheit mehrere Tage geblieben und hatte sich trotzdem für die Rückkehr zu seiner Berufung entschieden. Seitdem hatte er sieben Monate Zeit gehabt, seinen Entschluß zu überdenken, und dieser plötzliche Drang, Longner zu besuchen, obwohl diesmal keine unabweisbare Sohnespflicht den Besuch dringlich machte, schien dem Abt ein bedeutsames Anzeichen dafür, daß die Entscheidung schon so gut wie gefallen war.
Cadfael überquerte gerade den Hof, um zum Abendgebet in die Kirche zu gehen, als Sulien mit der Neuigkeit an ihn herantrat.
»Es ist nur natürlich«, sagte Cadfael herzlich, »daß Ihr den Wunsch habt, Eure Mutter und auch Euren Bruder zu sehen. Geht nur. Unsere guten Wünsche begleiten Euch, und Gott segne Eure Wahl, wie immer Ihr Euch entscheidet. «
Als er den Jungen beim Torhaus hinausreiten sah, erwartete er jedoch nichts anderes als das, was auch Radulfus vorschwebte. Sulien Blount war allem äußeren Anschein nach nicht für das Leben im Kloster geschaffen, wie sehr er sich auch bemüht hatte, an seine fehlgeleitete Wahl zu glauben. Eine Nacht im Elternhaus, jetzt, in seinem eigenen Bett und im Kreis seiner Familie, würde die Angelegenheit entscheiden.
Diese Überlegung ließ während des Abendgebets eine sehr naheliegende Frage in Cadfaels Kopf herumwirbeln.
Was hatte den Jungen eigentlich getrieben, sich überhaupt für das Kloster zu entscheiden?
Sulien kam am nächsten Tag rechtzeitig zur Messe zurück.
Er wirkte sehr ernst und entschlossen. Er schien der vollen Mannesreife um Jahre näher zu sein als bei seiner Rückkehr von den Schrecken und Entbehrungen des Marsches von Ramsey her, den er mit solch männlicher Kraft und Entschlossenheit überstanden hatte. Ein ausdauernder, aber verletzlicher Jüngling hatte zwei Tage in Gesellschaft Cadfaels verbracht; ein ernster und zielstrebiger Mann kehrte jetzt von Longner zurück, um ihn nach der Messe anzusprechen. Er trug zwar noch den Habit, aber seine absurde Tonsur, der Scheitel voll dunkler, goldfarbener Locken in dem zugewachsenen Ring dunkleren braunen Haars, verlieh ihm etwas unpassend Lächerliches, besonders da sein Gesicht einen so ernsten Ausdruck zeigte. Höchste Zeit, dachte Cadfael, ihn mit beginnender Zuneigung betrachtend, daß er geht und wieder dorthin zurückkehrt, wohin er gehört.
»Ich möchte
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