Das Geheimnis der Sprache (German Edition)
Bedeutungen bis zur vollen Gegensätzlichkeit fähig ist. Das geht so weit, daß selbst die anscheinende Verneinungs-Vorsilbe »Un« als Bejahung, als Verstärkung aufzutreten vermag. Unmenge verneint nicht die Menge. Ungewitter hebt die Bedeutung von Gewitter nicht auf, verstärkt sie vielmehr. Untiefe bezeichnet nicht nur eine seichte Stelle, sondern auch eine unermeßliche Tiefe. Geziefer und Ungeziefer sind, zoologisch genommen, dasselbe. Man kann, wenn auch sprachlich nicht schön, so doch verständlich, eine Erscheinung, ein Verhalten als ungemein gemein, als ungewöhnlich gewöhnlich bezeichnen. Kontrastworte wie subjektiv und objektiv haben im Lauf der Denkentwicklung mehrfach ihre Bedeutung bis zum Rollentausch verändert.
Für die Stellung der Kämpfer auf dem Felde der Sprachfragen kommen nun Attributworte zur Geltung, die nach landläufiger Meinung ganz fest umschrieben sind, so namentlich: deutsch, patriotisch. Aber auch diese unterliegen einem Bedeutungswandel, der unter Umständen so stark an ihnen herumarbeitet, bis sie sich – was man zunächst für undenkbar und widersinnig halten müßte, – geradewegs in ihr Gegenteil verkehren.
Wir besitzen keine nachdrücklichere Vorsatzsilbe als »All«; wenn wir statt »umfassend« sagen allumfassend, statt Macht: Allmacht, statt Mutter: Allmutter, so verstärken wir, und es erscheint zunächst ganz ausgeschlossen, daß das auch einmal anders kommen oder am Ende gar umschlagen könnte.
Aber das scheinbar Widersinnige begibt sich, und zwar durch eine Zauberei, für die wir in diesem Falle die Hexe Politik als zuständig erklären müssen.
Nach reiner Sprachlogik müßte doch »alldeutsch« das Deutscheste vom Deutschen sein; und auf die Gleichung deutsch = patriotisch übertragen, der Superlativ vom Patriotischen.
Gerade das wird aber vom Parteistandpunkt aus heftig bestritten, und es machen sich Gesichtswinkel der Betrachtung geltend, unter denen sich jenes vorgesetzte »all« vollkommen verschiebt.
Aus tausend Belegen hierfür zitiere ich hier nur einige Zeilen aus den Schriften eines unserer hervorragendsten politischen Schriftsteller; ich nenne sie ohne die geringste politische Eigen-Absicht, nur um zeigen, daß diese Betrachtungen vorkommen und eine Rolle spielen. Sie lauten:
»Man vergesse doch ja nicht, daß unter Herrn v. X. zwar in der letzten Zeit seiner Kabinettspolitik › alldeutsch ‹ ungefähr ebensoviel bedeutete wie früher › sozialdemokratisch ‹, daß aber schließlich sich das Blättchen wieder einmal wenden könnte.« – »Seitdem ... von den Reichskanzleibeamten, die Herrn v. Y. nahestanden, die Bezeichnung ›Alldeutsche‹ als Schimpfwort für alle diejenigen geprägt wurde, die nicht bis ins einzelne mit den Zielen und Methoden der damals vom Auswärtigen Amt und der Reichskanzlei vertretenen Politik einverstanden waren, ist in einigen Köpfen die Scheidung zwischen alldeutsch und patriotisch zum Angelpunkt jeder politischen Betrachtung geworden.«
Der angesagte Beweis ist damit zwingend und restlos geführt. Denn wenn selbst das scheinbar unerschütterliche »all«... irgend wann und irgend wo vollkommen umschlagen kann, so verschwindet damit der letzte Rest des Absoluten aus den Begriffen, und jeder kann sich zu seinem genauen Gegenteil umwerten ...
Worauf stützen sich aber die Kräftlinge unter unsern Sprachheiligen? vor allem auf das Absolute der Begriffe, unter deren Zeichen sie marschieren. Aber diese Zeichen sind nur höchst veränderliche Symbole, und was sie als deutsch, alldeutsch, patriotisch betrachten, kann sich bei verschobenem Gesichtswinkel einmal als etwas ganz anderes darstellen. Die Kräfte, die hier ins Spiel kommen, Parteiströmungen, Neuorientierungen in Staat, Gesellschaft und Weltanschauung, sind mächtiger als sie ahnen, und so könnte es sich ereignen, daß der patriotische Sprachvogt von 1910 zwanzig Jahre später als durchaus nicht mehr so patriotisch begriffen wird. Nicht sein Charakterbild wird in der Geschichte schwanken, aber sein Werk; falls sich nämlich, wir wie vermuten, herausstellen sollte, daß sein Werk den wahren Interessen des Volkes mehr Hemmung als Förderung eingetragen hat. Dämmert diese Erkenntnis erst auf, so öffnen sich damit auch neue Förderungswege; wohl denen, die diesen Bedeutungswandel erleben werden!
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Aus Goethes Gesprächen bewahren wir ein Wort, das man allen Meinungskämpfen über Sprachmöglichkeiten als Motto voranstellen sollte. Goethe hat
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