Das Geheimnis der Sprache (German Edition)
und die Verdunkelung steigert sich mit jedem weiteren Spiegel. Genau dasselbe begibt sich bei den fortgesetzten Verneinungen: der Sinn wird verdunkelt, seine Umrisse verschwinden, seine Farbe verdämmert. Wobei einzurechnen, daß nicht nur die reinen Verneinungsworte (nicht, nie, keinen, un – – usw.), sondern auch zahllose andere: fremd, ausgeschlossen, zweifeln, widersprechen, gefährden, außer Frage stellen usw. negativ wirken oder wirken können. Selbstverständlich sind die wiederholten, sogar die gehäuften Verneinungen nicht zu entbehren, wenn nämlich der Sinn selbst das Negative, Kontradiktorische als Bedingung enthält. Allein das Ergebnis hängt davon ab, ob die Wortfassung diesen Grundsinn klar darstellt oder in eine Rätselaufgabe verwandelt. Wird der Leser und Hörer gezwungen, mühsam aufzuknüpfen, Plus und Minus gegeneinander aufzurechnen, um schließlich sprach-algebraisch herauszukommen, was da wohl gemeint sein könnte, dann war die Sache im Ausdruck verfehlt. Freilich können sich die vielzuvielen Verneinungskünstler von heute auf ein klassisches Muster berufen, auf ein höchst seltsames; denn das Muster beweist, daß die Menschheit selbst dort, wo das Negativrätsel ganz falsch gestellt war, die richtige Auflösung findet. In den älteren Ausgaben von Emilia Galotti, Akt 2, Szene 6, sagt Claudia: ... »Gott, Gott, wenn dein Vater das wüßte! – Wie wild er schon war, als er nur hörte, daß der Prinz dich jüngst
nicht ohne Mißfallen
gesehen! ...« So wurde die Stelle von Millionen gelesen, gehört, als Ausdruck der Bezauberung aufgefaßt. Und fast hundert Jahre währte es, ehe die Verfilzung der drei Negative als ein Zufallsschnitzer erkannt wurde. Und hieraus können die Verneinungssportler allerdings die Beruhigung entnehmen, daß es auf ein paar »nein, nicht, un..., ohne« mehr oder weniger gar nicht ankomme; der Hörer wird schon raten, was dem Sprecher vorschwebt, selbst dann, wenn im Satze Fassung und Sinn schnurstracks auseinanderlaufen. –
Man soll sich nur niemals einreden, eine Generation wäre der vorigen oder vorvorigen im Sprachgefühl sonderlich überlegen. Genau genommen läßt sich immer nur eine Veränderung des Gefühls, nicht aber ein Fortschritt feststellen, da ja ein Grundpunkt zur Orientierung in aller Sprachempfindung unmöglich vorhanden sein kann. Zu Goethes Zeit und weit darüber hinaus hatte der Satzbruch (das Anakoluth) wie überhaupt der Mangel an Folgerichtigkeit in der Konstruktion nichts auffälliges. Man schrieb ohne Bedenken:
»Die Mittel, die er anwandte, und es auch richtig dahin brachte ...«
»Der Becher, aus dem sie nippte, und mit vielen Danksagungen hinwegeilte ...«
»Der Wagen, worin er die Unglücksfahrt unternahm, und ihm die Pferde bei der ersten Biegung der Landstraße durchgingen ...«
»Marianne schaute mit einem traurigen Blick nach ihr auf, den Wilhelm bemerkte und in seiner Erzählung fortfuhr ...«
»Ein physisches Mittel, dessen Schädlichkeit Du eine Zeitlang wohl eingesehen, und daß Du, aus Liebe zu mir, auch eine Weile vermieden und Dich wohlbefunden hattest« (aus einem Brief Goethes an Frau v. Stein).
»In dem Göttinger Dichterbund, dem auch Goethe beitrat und mit den Brüdern Stolberg ein Freundschaftsbündnis schloß ...«
Hatten die Schreiber etwa gar keinen Sinn für grammatische und logische Zusammenhänge? Hielt es einer für richtig, daß jemand aus einem Becher nippt und aus dem nämlichen Becher hinwegeilt? Eher könnte man eine gewisse Sorglosigkeit annehmen, und wenn wir im Laufe der Jahrzehnte darin strenger wurden, so kann, bei abermaligem »Fortschritt« des Sprachgefühls, diese Strenge wiederum als fesselnde Pedanterie erscheinen. Sollte nur ein einziger bedeutender Schriftsteller der Zukunft zur Anakoluthie zurückkehren, so könnte die Eingebung seiner Laune sehr bald wieder Mode werden. Und dann werden auch Ästheten auftauchen, die für die Herrlichkeit derartiger sorglos geformter Sätze mit urwüchsiger Begeisterung eintreten.
Und wie steht es mit unseren eigenen Sorglosigkeiten? Leicht gleiten den Mitlebenden Formen aus der Feder wie: »Die alberne Figur, die er machte ...« – »Die Gefahr, die er lief ...« – »Die Flucht, die er ergriff ...« Soll schon Genauigkeit im Ausdruck herrschen, so sind alle solche Bezugsformen zu verwerfen, sofern nur irgend etwas Sinnbildliches, Uneigentliches in ihnen steckt. Derartige Formen sind den Vorgängen vergleichbar, die man in der Physik als
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