Das Geheimnis der Sprache (German Edition)
»irreversibel« bezeichnet, und man gerät in Fallstricke, wenn man sie trotzdem als umkehrbar behandelt. Aber auch hier kann sich das Sprachgefühl ändern, und es ist nicht ausgeschlossen, daß die Zukunft alle Formen dieser Gattung freigibt, ohne den logischen Einwand zu beachten. Dann wird man unbedenklich schreiben: »Die Epoche, die er machte ...« – »Die Lunte, die er roch ...« – »Der Vogel, den er (z. B. ein Konzertkünstler) abschoß«, und niemand wird danach fragen, ob das Hauptwort gegenständlich oder figürlich gemeint sei.
Auch der Zwang der Einzahl (im Singularetantum) kann einmal aufhören. Schon heute gelten unsern Schöngeistern Bildungen wie »die Dränge«, »die Inhalte«, »die Eigensüchte«, »die Vordergründe«, »die Wollungen«, »die Pietäten«, »die Humore«, als erlaubt und stilschön; und da in diesen Pluralstrebungen kein Ende abzusehen, so müssen sich auch die übrigen Singulare in absehbarer Zeit auf Vervielfältigung gefaßt machen: die Heimaten, die Neide, die Adel, die Prünke, die Schanden, die Raube (oder Räube?), die Reuen, Treuen und Spreuen, dazu eine Unzahl anderer Worte, die sich zurzeit ohne zureichenden Grund auf die Einzahl festgelegt haben. Warum »die Kohlen« und nicht auch »die Marmore«, warum die Quarze und nicht auch die Sande, die Stäube? Was der Luft, der Erde, dem Eisen recht ist, könnte auch dem Stahl, dem Silber und dem Schwefel billig sein; und es ist nicht abzusehen, weshalb sich der Kopfschmerz, das Fieber und der Schnupfen leichter pluralisieren lassen, als die Gicht und das Zahnweh, weshalb der Mangel sich zu Mängel auswachsen kann, die Fülle aber nicht zu Füllen, und warum Liebe wie Haß gemeinsam dem Plural einen merklichen Widerstand entgegensetzen. –
Wie leichtherzig sich das Sprachgefühl bisweilen den Zugriffen der Logik entzieht, das zeigt sich deutlich bei gewissen negativ betonten Eigenschaftswörtern, die einen Höchstgrad bedeuten, aber immer noch weiter gesteigert werden. Wir lesen von einem »unerhörten Vorgang«, und etliche Zeilen darauf wird ein »noch unerhörterer Vorgang« berichtet. Auf den »unvergleichlichen Künstler X« folgt ein Künstler Y, den der begeisterte Kritiker »noch unvergleichlicher« findet. Dieses Überstürzen des Ausdrucks ist nicht von heute und gestern, stammt vielmehr aus den Zeiten, da die höfischen Berichte zu melden wußten: Die allerhöchsten Herrschaften begaben sich in den Dom, um dem Höchsten zu danken. Eduard Hanslick, einer der größten Sprachkünstler unter den deutschen Kunstschreibern, hat in Übereinstimmung mit Felix Mendelssohn die Sängerin Jenny Lind als »noch nie dagewesen« und »niemals wiederkehrend« bezeichnet, zehn Jahre später feierte er die Carlotta Patti als eine »Erscheinung ohne Gleichen«, was ihn nicht hinderte, Désirée Artot »noch beispielloser« als Carlotta, und Adelina Patti »noch unvergleichlicher als alle andern« zu finden. Wir haben uns daran gewöhnt. Das Perpetuum mobile ist unmöglich, und die Quadratur des Kreises ist noch »unmöglicher«. Ein namenloses Entsetzen kann leicht noch namenloser, ein unsagbares Elend noch unsagbarer werden; und man stutzt nicht sonderlich, wenn man liest: »Nur um den Minister zu schleunigem Eingreifen zu veranlassen, haben wir diese unbeschreiblichen Zustände so genau beschrieben.« Die Vorsilbe »un« besitzt eben nur redensartlichen Wert, bezeichnet auf dem Maßstab irgend einen Grad und läßt sich darauf nach Bedarf verschieben.
Genau genommen sollte man sich bei jedem Komparativ fragen, ob nicht im Wort irgend etwas Bildliches, Abgeleitetes steckt, das nicht mitgewandelt werden kann. Von zwei Verleumdern kann der eine nicht »eingefleischter«, von zwei Verbrechern der eine nicht »gewiegter, abgebrühter« sein als der andere. Man dürfte ebensowenig sagen »der ausgemachteste Dummkopf« wie der »gerissenste Schieber«, »die zweideutigere Redensart«, »der gesiebtere Lump«, »der ungeschlachtere Riese«, »das mittelmäßigere Talent«, oder das »lauere Badewasser«.
In der Mathematik gibt es zweifellos wahre, aber unbewiesene Sätze, z. B. den berühmten Primzahlsatz von Goldbach; man dürfte indes, um ganz streng zu bleiben, nicht behaupten, der pythagoreische Satz sei »bewiesener« als der Goldbachsche, eben weil für diesen gerade das fehlt, was wir Beweis nennen. Beide Sätze verkünden Wahrheiten, aber die eine ist nicht wahrer und nicht ewiger als die andere. Hier öffnet
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