Das Geheimnis der Sprache (German Edition)
Umständen sehr stark, nämlich dann, wenn es darauf ankommt, möglichst kurz, schnell und billig Nachricht zu geben. Mit einem einzigen Kurzwort wird unter tausenden möglicher Empfänger ein einzelner ganz bestimmt als Adresse bezeichnet, und wenn dieser, etwa der Leiter einer Bank, wiederum nur das einzige Wort »Russenfläue« als Telegramm empfängt, so entziffert er ohne die geringste Schwierigkeit in der Sekunde einen komplizierten Vorgang an der Börse: den Verkaufsandrang in russischen Werten, die mangelnde Aufnahmefähigkeit und den hierdurch bedingten starken Kurssturz der betreffenden Papiere. Wenn ich von unterwegs nach Haus drahte: »Eintreffe Zoo sieben Minna Gepäck Suppe«, so wissen die Meinen sofort, was ich anzeige und wünsche: das Hausmädchen Minna soll sich um sieben Uhr am Bahnhof Zoologischer Garten einfinden, um mir bei der Fortbringung des Gepäcks behilflich zu sein, und ich erwarte zum Abendessen eine Suppe. Die Satzkonstruktion ist bis auf Null gemindert, die Wortzahl auf ein Mindestmaß herabgedrückt, die Verständlichkeit hat nicht gelitten.
Wäre die Gedankensprache und die Schriftsprache nichts anderes als das Mittel der Verständigung im Sinne der Nachricht, so besäßen wir im Telegrammstil das Ideal des Ausdrucks. All die Mühseligkeiten, die wir im Dienste der Gedankenübertragung sonst durchzumachen haben, die unsern Sprachkampf darstellen, unsere Anstrengung, mit der endlichen Zahl der Worte der Unendlichkeit des Denkens beizukommen, fielen für uns fort. Wir hätten die schöne Einfachheit der nackten Meldung erreicht, wir wären einer Anforderung gerecht geworden, die in den Wahrspruch mündet: Simplex sigillum veri, – das Einfache ist das Kennzeichen des Wahren.
Dieser Satz wird unerschüttert bleiben, nur daß wir eine andere Wahrheit als die einer Meldung, und eine andere Einfachheit als die eines verkürzten und verkümmerten Sprachschatzes im Auge haben.
Denkt man sich die Gesamtheit des menschlichen Denkens als eine im Fluß begriffene Ebene ohne Ende, so schwimmen die Worte auf ihr als kreisförmige Inseln, die sich bisweilen berühren, weitaus öfter indes durch große Zwischenräume getrennt bleiben. So viele ihrer auch sind, – ihre Gesamtgröße stellt eine Winzigkeit dar im Verhältnis zur Größe des Denkfeldes. Das ist die Wahrheit.
Neue Inseln bilden sich, alte verschwinden, werden überspült. All unser Ausdrucksbestreben richtet sich darauf, von je einer zur andern zu gelangen, da wir kein anderes Mittel besitzen, um das Denkfeld zu durchmessen. Wächst die Inselzahl, so wird uns eine Erleichterung, vermindert sie sich, eine Erschwerung. Das ist die Wahrheit, die einfache Wahrheit.
Nichts ist einfacher als der Schluß, daß keine Inselzahl groß genug sein kann. Niemals kann sie ausreichend sein, denn von Tag zu Tage vergrößert sich der Umkreis des Denkfeldes. Und niemals ist es zu erhoffen, daß die Wortfläche auch nur annähernd das Ausmaß der Denkfläche erreichen könnte. Die Sprache des denkbar Höchstgebildeten besteht aus ungefähr 200 000 Worten. Mit Einschluß der Dialektworte, der Provinzialausdrücke und der übernommenen Fremdworte mögen es etwa 300 000 sein.
Wer sich auf »Meldungen« beschränkt, wird mit einem winzigen Bruchteil dieser Menge auskommen; der Wilde mit einigen Hunderten, der Bauer, der Fischer, ja sogar der in einem bestimmten Geschäftskreis wirkende Telegrammabsender mit wenigen Tausenden. Aber die freie Menschenrede, das Schrifttum, die alle Geistigkeit überfliegende Literatur besteht nicht aus Meldungen, klebt nicht an Mitteilungen, die sich den Tatsächlichkeiten im gleichmäßigen Ablauf des Werktages anschließen. Und bei genügender Weitspannung des Horizontes muß der Sprecher und Schreiber an den Punkt gelangen, wo er selbst mit zwei- oder dreihunderttausend Worten die Entbehrung spürt.
Und auf diesem Punkt angelangt wird er erkennen: jeder Versuch, die Zahl zu mindern, ist zugleich ein Versuch, Rede und Schrift auf die Tiefebene der »Meldung« herabzudrücken; und weiterhin: hat sich ein Weltwort auch nur in einem einzigen Fall als dienlich erwiesen, bringt es auch nur in einem einzigen Fall beim Hörer und Leser eine Saite in Schwingung, die sonst nicht getroffen und erregt wird, so ist dieses Wort überhaupt unübersetzbar und unentbehrlich. Aus der Strömung der Sprache einzelne Tropfen abfangen und ihnen das Mitströmen verbieten wollen, ist zwecklos und unmöglich. Der Tropfen wird aus dem
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