Das Geheimnis der Sprache (German Edition)
lange zuvor Dionysius, Cato und Plutarch. Lassen wir ihn als Bekenntnis Talleyrands gelten, so hat er im sittlichen Sinne eine üble Bedeutung als grundsätzliche Rechtfertigung der Verlogenheit und der ränkevollen List. Entkleiden wir aber den Satz seiner Bosheit, so bleibt eine große Wahrheit bestehen: Denn die Worte verbergen allerdings unsere Gedanken, aus dem einfachen Grunde, weil sie gar nicht imstande sind, sie auszudrücken. Alle Schuld liegt bei den Worten, bei ihren Mängeln, ihrer Unzulänglichkeit, ihrer Minderzahl, bei Eigenschaften, die sie den Gedanken gegenüber gar keine andere Rolle spielen lassen als eine verhüllende, verfälschende, bestenfalls oberflächlich andeutende.
Von diesem Mißverhältnis der Sprache und Gedanken wissen nur die wenigsten Menschen. Aber für alle Fragen, die uns hier beschäftigen, vor allem für die Frage der Sprachreinheit, Sprachgüte und Sprachtauglichkeit, ist die Kenntnis jener Wahrheit unerläßlich. Um den Schluß vorwegzunehmen: Unsere heutigen Sprachreiniger sind, ohne es zu wissen und selbstverständlich ohne irgend welche diplomatische Bosheit, doch die Vollstrecker des Talleyrandschen Satzes. Sie leisten das Erdenkliche darin, den Wortschatz mit Waffen zur Verhüllung, ja zur Zerstörung der Gedanken auszurüsten; sie nehmen ihm alle Möglichkeiten, den Gedanken wenigstens in brauchbarer Annäherung gerecht zu werden. Denn in erster Linie: Sie vermindern die Zahl der Worte, sie dezimieren die Worttruppen, die ohnehin, selbst mit Einschluß der Fremd- und Weltworte spärlich genug sind, um im Aufmarsch gegen die Unendlichkeit der Gedanken dem Ausdrucksbedürfnis genügen zu können. Die hervorragendsten Denker aller Zeiten haben dieses Mißverhältnis gefühlt, einige von ihnen haben es ausgesprochen, so John Locke in seinem grundlegenden Werke über den menschlichen Verstand:
»Es würde nutzlos sein, alle die besonderen einfachen Ideen (Gedanken) aufzuzählen, die jedem Sinne angehören. In der Tat würde es aber auch, wenn wir es wollten, nicht möglich sein, weil den meisten Sinnen sehr viel mehr angehören, als wofür wir Namen (Worte) besitzen. Den mannigfaltigen Gerüchen z. B., deren es fast ebensoviele, wenn nicht mehr , als Arten von Körpern in der Welt gibt, fehlen fast durchweg die Namen, – die Worte. Duftig und stinkend genügen uns gewöhnlich zur Bezeichnung dieser Ideen, womit effektiv wenig mehr gesagt ist, als wenn man sie angenehm oder unangenehm nennt, obschon der Geruch einer Rose und eines Veilchens, die beide duften, wohl unterscheidbare Ideen sind. Kaum besser mit Namen versehen sind die verschiedenen Arten des Geschmacks, der uns durch unseren Gaumen Ideen zuführt. Süß, bitter, sauer, herb und salzig sind fast der ganze Vorrat an Eigenschaftsworten, die wir besitzen, um die zahllose Mannigfaltigkeit der Geschmacksempfindungen zu bezeichnen, die nicht nur aus so vielen Arten, sondern aus den verschiedenen Teilen derselben Pflanze, des nämlichen Tieres gewonnen werden. – Im Vergleich mit der endlosen Mannigfaltigkeit der Gedanken ist der Wörtervorrat so dürftig , daß Menschen, die für ihre Begriffe genau passende Ausdrücke nötig haben, selbst bei Anwendung der größten Vorsicht oft gezwungen sein werden, dasselbe Wort in etwas verschiedenem Sinn zu gebrauchen.«
Das wurde im siebzehnten Jahrhundert geschrieben; zu einer Zeit, in der die Sprachkritik noch in den Windeln lag; und in einem Lande, dessen Sprachentfaltung in keiner Weise bedroht war. John Locke hatte sich nicht zu wehren. Aber es klingt wie eine Ansage an die bedrohte Zukunft eines anderen Volkes, wenn er in einem besonderen Kapitel schon durch die Überschrift die »Unübersetzbarkeit der Wörter« feststellt und damit auf den Verrat hinweist, den die Übersetzer um jeden Preis am Worte verüben: »Wenn wir verschiedene Sprachen genau vergleichen, so werden wir finden, daß, wenn sie auch Wörter haben, die den Wörterbüchern zufolge einander entsprechen sollen, doch unter dem Namen komplexer Ideen kaum einer von zehnen genau dieselbe Idee vertritt wie das Wort, womit er in den Wörterbüchern übersetzt wird.« Kaum einer von zehnen, sagt Locke, – und er denkt dabei an die wirklichen, an die notwendigen Bücher, welche die Brücke von Sprache zu Sprache schlagen; kaum einer von hundert, würde er geschrieben haben, hätte er die Künste eines neuzeitlichen Fremdwörterbuches vorausahnen können. Des Weiteren betont Locke die »Unvollkommenheit der
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