Das Geheimnis der Sprache (German Edition)
wir uns vor, ein ganzes Volk stotterte; so wäre es ebenso töricht, ihm das Stottern austreiben zu wollen, als den Franzosen die Nasallaute oder den Holländern die rauhen Kehltöne. Im Stottervolk wäre der Nichstotterer der Ausdruckskranke, wie im Bereiche der Hunde der Einzelhund, der anstatt zu bellen, in Nachtigallentönen flötete oder wie ein Löwe brüllte oder wieherte oder quakte.
Aber so ungefähr stellen sich die Doktoren ihre Stellung innerhalb der sprechenden und schreibenden Masse vor. Sie begrenzen die Krankheit freilich enger, verlegen ihren Herd in ein anderes Gehirnzentrum, aber sie kommen von der Täuschung nicht los, daß sie, die wenigen, den reinen Typus darstellen, die Norm, das Gesunde, die andern aber, die Millionen, den Lazarettfall. Grund genug für sie, um in ihrer Quacksalberei fortzufahren, die schon deshalb zu keinem Ergebnis führen kann, weil sie auf einen Widersinn hinauswill, nämlich auf die Leugnung des durchgreifenden Gesetzes von der großen Anzahl.
In Wahrheit sind sie die Sprachkranken, mit deutlicher Verkümmerung gewisser Organe, die sich im großen Werdegang der Sprache als Empfänger und Fortbildner entwickelt und als unerläßlich erwiesen haben. Zu diesen Organen gehört der Sinn für die feinen Unterscheidungen in der unermeßlichen Vielfältigkeit der Begriffe; die hinausstrebt über die groben Einteilungen bis zum ahnungsvollen Erfassen verschwimmender Unterschiede in den begrifflichen Grenzgebieten.
Wer in der Seelenlehre über die Anfangsgründe hinausgelangt ist, der kennt jenen dämmernden »Hof«, den Rand, den Saum, der sich kreisförmig über Worte und Begriffe lagert. Der bedeutende Philosoph William James hat ihn unter dem englischen Namen »fringe« in die Philosophie eingeführt und ausführlich behandelt. Fringe, zu deutsch Franse oder Franje, besagt, daß die bestimmten Bilder der landläufigen Psychologie nur den allerkleinsten Teil unseres tatsächlichen Seelenlebens ausmachen, daß fast jede unserer Vorstellungen im Strom des Bewußtseins von Begleiterscheinungen umgeben und gefärbt wird. Wie der Hof um den Mond, so lagern sich um Worte und Gedanken jene Säume mit all ihren wechselnden Unbestimmtheiten, welche die scheinbare Endlichkeit der Wortvorstellungen zur Unendlichkeit steigern. Die Ansicht der überlieferten Psychologie – sie wird sprachlich durch die Gilde der dokternden Pedanten vertreten – gleicht derjenigen, wonach ein Fluß lediglich aus so und sovielen Tonnen, Eimern, Krügen, Löffeln voll Wasser bestünde. Auch wenn diese Gefäße alle tatsächlich in dem Strom ständen, würde das freie Wasser doch fortfahren, zwischen ihnen hindurchzuströmen. Gerade dasjenige, was diesem freien Wasser im Bewußtsein entspricht, ist es, was jene Psychologen so standhaft übersehen. Jedes bestimmte Bild in unserem Geist wird von dem freien Wasser, das es umspült, benetzt und gefärbt.
Das Bewußtsein wird in jedem Augenblick von etwas gefärbt und betont, was der greifbaren Gegenwart gar nicht angehört. In allen Vorstellungen waltet ein Hinüberklingen aus der Vergangenheit, ein Vorausklingen der Zukunft; das Symbol, unter dem jene Unter- und Obertöne sich ankündigen, ist jener Saum mit seinen verschwimmenden, niemals in Sprachgrenzen einzuzeichnenden Unendlichkeiten.
Das im Kern sprachgesunde Volk besitzt zwar nicht diese Lehre, aber eine ahnungsvolle Erkenntnis von dem Vorhandensein der unermeßlichen Vielfältigkeit im Bereich der Vorstellungen, die nach Sprachausdruck streben. Es spürt, daß wir niemals zu viel, immer viel zu wenig Worte haben. Begierig greift es nach allen erdenklichen Ausdrücken, gleichviel aus welcher Sprache, wenn es nur irgendwie taugt, um einer der zahllosen Färbungen zu entsprechen. Überläßt man das Volk seinen sprachgesunden Trieben, so mehrt es von selbst seinen Wortschatz, eben weil es eine Ahnung von den Lichtern und Schatten besitzt, die in jedem Ausdruck hinein- und um jedes Wort herumspielen.
Der dokternde Schulmeister bemerkt diese Färbungen, diese Höfe, Säume, Ränder nicht, ist gar nicht imstande, sie wahrzunehmen, denn seine Organe sind verkümmert, und diese Verkümmerung bedeutet seine Krankheit. Er ist von einer Art Taubheit befallen, von der Unempfindlichkeit gegen die tönende Schattierung. Wagt es einer aus dem Volke, von dieser zu reden, so hat der taube Sprachdoktor sofort eine geschriebene Zurechtweisung zur Hand, eine papierne Formel, des Inhalts: Schattierung – »Nüance«
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