Das Geheimnis der Sprache (German Edition)
Nebengerinnsel zu fließen anfangen, aus der Verdunstung sich niederschlagen, irgendwo wieder erscheinen. Der Verbieter ähnelt dem Handwerksburschen, der am Reifträger im Riesengebirge die Elbquelle mit der Hand zuhielt, damit sich die Leute in Hamburg über das Ausbleiben der Elbe wundern sollten.
Wer nur über zehntausend Worte verfügt, mag sich damit reich vorkommen, verfünffacht sich sein Reichtum, so wird er Mangel empfinden. Und in dieser Stimmung kann er eine ferne Zukunft ahnen, in der ein Schriftsteller auf erhöhter Kulturstufe unsere Sprache von heute als dürftig im Worte und als primitiv belächeln wird.
Im Grunde genommen ist jedes Wort ein Ersatz für das Vorgestellte, oder besser gesagt: ein Surrogat. Denn der Ersatz leistet mehr als das Surrogat, seine Ersatzstärke reicht weiter; sowie die Margarine einen Ersatz für Butter bietet, das Sacharin aber nur ein Surrogat für Zucker, da ihm eine Wesentlichkeit des Zuckers abgeht, der Nährgehalt. Sonach läßt sich das übersetzte Wort als ein Minderwert in zweiter Potenz ansehen, als das Surrogat eines Surrogates. Abgesehen von den sehr seltenen Fällen, in denen es dem Übersetzer gelingt, ein wirklich brauchbares Neuwort zu schaffen. In der überwiegenden Regel verfährt er anders: er bepackt ein längstvorhandenes deutsches Altwort mit einer neuen Bedeutung, lädt ihm eine Last auf, die es nicht zu tragen vermag, und belegt dabei ein Fremd-Surrogat mit dem Bann. An dessen Stelle erscheint nunmehr der Notbehelf eines Notbehelfs.
Aber die Sprache selbst geht andere Wege. Sie ist wie die meisten Organismen mit einer solchen Fülle von Keimen ausgerüstet, daß sie jede Verkürzung und Minderung mit üppiger Mehrung beantwortet. Und nicht dadurch, daß sie auf Herrn Soundso wartet, der sich den Kopf zerbricht, wie er ein Neuwort formt, sondern sie schafft es aus sich heraus. Und auf das Reinvölkische kommt es ihr dabei nicht an. Sie stellt das fremdländische in den Dienst der Grundsprache, wenn nur eine Vermehrung der Ausdrucksmöglichkeiten dabei herauskommt, wenn sich nur aus der Summe aller Notbehelfe etwas entwickelt, das dem Behelf näher kommt. Die Sprache kennt die Grenzen ihrer Kraft, sie weiß, wie weit ihr allzeit der Gedanke voraus ist, und sie gibt sich alle erdenkliche Mühe, um ihn einzuholen. Ihre Nahrung nimmt sie unterwegs von den überhängenden Zweigen, deren Früchte sie abstreift, ohne viel nach dem Stammland der Gewächse zu fragen. An Warnungstafeln kehrt sie sich nicht, am allerwenigsten an Wegeverbote. Ihr ist erlaubt, was ihr gefällt, und am besten gefällt ihr der Weg mit freier Aussicht auf den Gedanken, als auf ein Ziel, das sie sich durch keinen Verbieter und Einschränker verhüllen und verdunkeln läßt.
Sprachkrank
Wer ist es? Wir oder die andern? Wir, groß geschrieben, die Sprecher und Schriftsteller, die sich einer Sprachklasse fühlen mit den Bedeutenden, die das deutsche Schrifttum geschaffen haben, oder die Doktoren, die uns heute beklopfen, behorchen und mit bekümmerter Miene feststellen, daß wir von einem schweren Leiden befallen, ja eigentlich unheilbar seien? Eine verzweifelte Gilde! Sie beschränkt sich nicht darauf, den Schreibern von Fach das schlimme Zeugnis auszustellen, sie faßt vielmehr ihr Urteil ganz allgemein und erklärt das ganze deutsche Volk für »sprachkrank«, für sprachverseucht, und in die Donner ihrer Entrüstung mischen sich elegische Mitleidstöne über die ungeheure Klinik von Memel bis Basel.
Und nicht einem dieser Doktoren fällt es ein, zu fragen, ob denn der Begriff der Krankheit überhaupt statthaft sei angesichts eines Allgemeinzustands. Ein Mindestmaß des Nachdenkens müßte zu der Erkenntnis hinreichen, daß der Normalzustand, mag er erscheinen wie er wolle, sich als die Gesundheit darstellt, jedes Abweichen davon als die Krankheit. Wenn alle Menschen husten würden, so gehörte der Hustenreiz zu den notwendigen Lebensfunktionen, krank wäre nur derjenige, dem dieser Reiz und seine Befriedigung versagt bliebe; ihn müßte man kurieren, um ihn der Reihe der gesund Hustenden zuzuführen. Das Gesetz der großen Zahl liefert hier wie in so vielen Betrachtungen die allein gültige Entscheidung. Es geht nicht an, auszurufen: Du ganzes Volk bist falsch gefärbt, besitzest ein krankhaft entwickeltes Hautpigment, weil ich, der Beurteilende, eine andere Hautfarbe trage; ja nehmen wir, um auf den Sprachfall zurückzukommen, einen äußersten, unmöglichen Zustand: stellen
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