Das Geheimnis der Tarotspielerin: Zweiter Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
ausruhen.«
Tringin schlug sich die Hand gegen die Stirn. »Da hab ich über unser Geschwätz ganz vergessen, dass heute ein Päckchen für Euch abgegeben wurde. Sogar von einem kaiserlichen Boten. Aus London …«
Erfreut beobachtete Sidonia, wie sich Lunettas Wangen mit einem Mal röteten und Freude ihre erschöpften Züge belebte. Das Päckchen kam zur rechten Zeit und würde sie von den trüben Gedanken ablenken, die sie auf dem gesamten Rückweg begleitet zu haben schienen.
»Aus London!«, rief Lunetta tatsächlich erfreut. »Ist es von meinem Vater?«
Tringin zuckte mit den Achseln. »Das weiß ich nicht, ich kann nicht lesen.« Aufrichtiges Bedauern schwang in ihrer Stimme mit. »Aber es trägt ein mächtiges Siegel!«
»Wo ist es?«, fragte Lunetta aufgeregt.
Die Magd fasste sie bei der Hand und zog sie über den Hof. »Es liegt auf der Truhe in der großen Diele. Ich helfe Euch gern, es zu öffnen.«
»Tringin!«, rief Sidonia ihr warnend nach.
Beim Klang ihrer Stimme wirbelte Claas van Berck herum. »Oh, mein Kätzchen, mein Kätzchen, komm und schau dir an, was ich mir als Überraschung für unsere Gäste ausgedacht habe. Das wird selbst Kölns vornehmsten Patriziern den Atem nehmen!«
Mit einem Seufzer schlenderte seine Tochter auf ihn zu, während ein Lehrbube zwei große Körbe mit farbigen Papierrosen vor dem Kaufmann abstellte. Van Berck griff sich eine und zupfte prüfend an den künstlichen Blättern.
»Was meinst du«, fragte er, »ob Lunetta die gefallen? Gelb würde ihre dunklen Haare sicher vorzüglich schmücken – oder besser Rot? Ja, die Farbe der Liebe!«
Sidonias Brauen zogen sich zu einem wütenden Strich zusammen. »Was hat Lunetta mit diesem Mummenschanz zu tun?«
»Na, sie wird natürlich der Mittelpunkt unseres lebenden Bildes sein. Und zwar als … Warte, der Pfarrer von Sankt Kolumba hat es mir notiert«, er griff in eine Innentasche seiner Schaube und kramte nach einem Zettel.
»Der Pfarrer?«
»Ja, er sagte, an Karneval dürfe man ruhig auf die heidnischen Märchen zurückgreifen. Schließlich kann man heitere Liebesszenen schlecht mit biblischen Figuren gestalten. Das wäre zu ernst und selbst an Karneval nicht gottgefällig.«
»Welche Liebesszenen?«
»Ah, hier ist es!«, rief Claas van Berck erfreut. »Wir stellen Amor und eine gewisse Psyche dar. Komischer Name. Nun ja, heidnisch eben. Aber diese Psyche war so wunderschön, dass Venus sie beneidete. Eine Art Prinzessin und reich dazu. Genau die richtige Rolle für Lunetta. Du solltest das Gewand sehen, das ich für sie schneidern ließ, blutroter Brokat und ein goldener Saum, besetzt mit Halbedelsteinen. Das lenkt von ihrer etwas zu dunklen Haut ab.«
Sidonia riss dem Vater zornig den Zettel aus der Hand. »Lunetta ist kein Schauobjekt deiner Prunksucht.« Sie überflog das Gekritzel des Pfarrers. »Und wer überhaupt soll Amor spielen?«
»Lambert natürlich«, sagte der Vater ungeduldig. »Ich hoffe nur, dass seine Flügel noch rechtzeitig eintreffen. Zwei Schwäne habe ich dafür rupfen lassen. Statt Pfeil und Bogen werde ich ihn selbstverständlich mit einer unserer schönen neuen Armbrüste ausrüsten, die bald nach England gehen. Man darf nie die Werbung für das eigene Geschäft vergessen. Was meinst du, ob ich auch eine Feldschlange oder einen Strauß Schwerter in dem Bild unterbringen kann?«
Sidonia stemmte wutentbrannt die Arme in die Hüften: »Nie und nimmer wird Lambert sich an so einem albernen Spektakel beteiligen.«
Claas van Berck lächelte breit und gemütvoll. »Oh doch, das wird er. Ich hatte am Morgen einen schrecklichen Hustenanfall.« Zum Beweis zwang er ein Hüsteln aus seiner Kehle und presste kurz eine Faust gegen den Mund. »Danach zeigte er eine gewisse Bereitschaft, als Lunettas Amor auf die Bühne zu gehen. Sie werden prachtvoll anzusehen sein. Ganz prachtvoll! So jung, so schön, und wie füreinander geschaffen. Ist das Leben nicht herrlich?«
4.
Sanft sank die Stimme von der Galerie in das feuchte Dunkel des Schankraums herab. Der Weihrauchduft, der der Kleidung des Predigers entstieg, belebte seine Zuhörerinnen und tröstete sie über den Geruch nach vergorenem Bier und saurem Wein hinweg. Obwohl müde nach arbeitsreicher Nacht, saßen die Frauen vom Berlichhaus aufrecht auf dreibeinigen Schemeln und Bänken längs der schmutzigweißen Wände.
Sie hatten ihre roten Schleier abgelegt, die Hände im Schoß gefaltet und lauschten mit zurückgelegten Köpfen und leicht
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