Das Geheimnis der Tarotspielerin: Zweiter Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
»Unser Gast kam vor einer Woche aus London.«
»Und predigt in deutscher Zunge. Das hat man in Köln nicht gern.«
»Er ist vieler Sprachen mächtig«, beeilte sich der Wirt zu versichern. »Für sich selbst betet er lateinisch, und man versteht kein Wort, wie es sich gehört. Er ist ein großer Gelehrter.«
»Und ein Winkelprediger.«
»Er reizt weder die Gemüter meiner Gäste noch die der Dirnen. Im Gegenteil, er besänftigt sie und sorgt dafür, dass sie ihren Pflichten mit mehr Freude nachkommen.« Der Wirt kicherte. »Er weckt ihre heilige Inbrunst. Und das gefällt wiederum den Gästen. Dafür müssten eigentlich wir diesem Prediger einen Lohn zahlen.«
Den Henker ärgerte das Lob. »Du weißt, dass Pfaffen der Besuch dieses Hauses verboten ist. Ich müsste ihn dem Rat anzeigen und mit Ruten aus der Stadt prügeln. Deinen Dirnen ist es erlaubt, ihn jederzeit zu plündern, dann hätten wir sein Silber auf einen Schlag.«
Der Hurenwirt ging hinter seinem Tisch in Deckung. »Die Weiber verehren ihn. Und sein elfter Finger scheint ihn nicht zu jucken. Er hat nie nach einer von ihnen verlangt.«
»Was will er dann hier? Für sein Geld könnte er sich in den vornehmsten Gasthäusern am Heumarkt einquartieren. Warum zieht er die Gesellschaft von Huren und Gesindel vor?«
»Möchtest du das wirklich wissen?«, fragte eine sanfte Stimme im Rücken des Henkers. Der Scharfrichter wirbelte erschrocken herum. Jesus Maria! Es gab nicht viel, was ihn in Furcht versetzen konnte, doch diese Stimme tat es. Vor ihm stand der Prediger. Aufrecht, schön von Gestalt und erhaben. Der Scharfrichter glaubte, der rote Stuhl unter ihm habe Feuer gefangen, und wollte sich erheben.
»Bitte, bleib sitzen«, sagte der Prediger sanft und fing ihn mit einem Blick aus grauen Augen ein, die heller leuchteten als jede Münze. »Ich bin deinetwegen hier, mein Sohn, und es wird nicht zu deinem Schaden sein.« Und dann tat er das Unglaubliche: Er legte seine Hand auf die hart gespannte Schulter des Henkers, der doch als unberührbar galt.
Gewöhnlich wich ein jeder dem Todesschergen aus, beim Bäcker war sein Brot mit einem Kreuz gekennzeichnet, damit kein anderer es versehentlich kaufen konnte, er hatte sein Wasser aus einem gesonderten Brunnen zu schöpfen und ehelichen durfte er nur die Tochter eines anderen Henkers. Er kannte keine freundlichen Blicke und Gesten, ging gleichsam unsichtbar durchs Leben. Mit gutem Grund. Ihm eine Freundlichkeit zu erweisen konnte den Tod nach sich ziehen. Im vergangenen Herbst hatte der Henker einen Mann mit dem Schwert gerichtet, der Schlag war zu heftig ausgefallen und der Kopf des Übeltäters in einer Blutfontäne vom Schafott gesprungen. Ein hilfsbereiter Zuschauer hatte das abgetrennte Haupt aufgelesen und nach oben gereicht. Was für ein Narr! Er hatte sich eingemischt in das Handwerk des Henkers und war – wie es das Gesetz verlangte – am Ende selbst gerichtet worden. Nein, keiner der bei Sinnen war, pflegte Umgang mit dem Scharfrichter. Sein Beruf war sein Fluch, der sich vererbte auf alle seine Nachkommen. Niemand, der bei Sinnen war, suchte die Freundschaft mit ihm, und nun das! Der Mann in Grau drückte ihm fest und voll Anerkennung die Schulter.
Eine angenehme Kühle durchflutete den Scharfrichter, löschte das Feuer in und unter ihm. »Weißt du, mit wem du sprichst?«, brachte er mit trockener Kehle hervor.
Der Prediger nickte. »Ich weiß es wohl. Ich spreche mit dem Meister der letzten Dinge.«
»Zum Teufel, du sprichst mit dem Henker!«
»Den unsere Ahnen als heiligen Mann verehrten und zu den hohen Priestern rechneten. Wusstest du das?«
Der Scharfrichter öffnete verblüfft den Mund, dann schüttelte er die Hand des Mannes wütend ab.
»Mich fängst du nicht mit solchen schönen Lügen ein«, blaffte er, sprang von seinem Stuhl auf und riss den städtischen Dolch hervor, der ihm zu tragen erlaubt war. »Ich bin Henker, wie mein Vater es war und dessen Vater und wie meine Söhne es sein werden. Für immer. Und ich bin ein fixer Mann.«
Ungerührt betrachtete der Prediger das Messer. »Ich bin sicher, dein Verstand ist weit schärfer als dein Messer.«
Er ging einen Schritt auf den Henker zu, der drohend die Klinge auf ihn richtete. Eine der Dirnen drängte sich dazwischen. Zornig funkelte sie den Blutvogt an.
»Wage es nicht!«, schrie sie und schlug ihm mit wütender Kraft das Messer aus der Hand.
Andere Frauen schlossen sich ihr an. Der Scharfrichter sah in wilde
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