Das Geheimnis der Tarotspielerin: Zweiter Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
»Du sprichst von Pfennigshuren, als handele es sich um ehrsame Frauen!«
»Ehre ist ein dehnbarer Begriff. Man trifft dort auch Kölns Pfaffen und erste Bürger.«
»Und dich!«
»Ich gehe dorthin, um zu lernen.«
Sidonia glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. »Was? Das Alphabet des Lasters, das sie mit ihren Leibern buchstabieren?«
Gabriel schüttelte resigniert den Kopf. »Huren wissen mehr als viele Ärzte und Hebammen über Empfängnis und das Entstehen einer Schwangerschaft. Darum besuche ich sie!«
»Huren mögen viel über die Verhütung oder die Vernichtung der Leibesfrucht wissen, aber nichts über das heilige Geheimnis des Lebens! Warum gehst du nicht zu den Beginen? Oder sprichst mit Catlyn?«
Gabriel unterbrach sie abrupt. »Über den Sadebaum? Ich schwöre dir, am liebsten würde ich sie dafür aus ihrem Bett prügeln.«
»Sie hat es gewiss nicht absichtlich getan. Sie ist eine fromme Frau.«
»Ich dachte, sie sei Lamberts Verlobte?«
»Zuvor war sie Nonne. Ihr Schicksal hat meinen Bruder gerührt, weil er selber ein Glaubensverfolgter und mit dem Tod bedroht war!«
»Lass uns nicht streiten, ich muss gehen. Ich erhielt Nachricht, dass eine der Huren schwere Schmerzen auf der Brust hat.«
»Kannst du nicht morgen gehen?«
»Sidonia, ich bin diesen Frauen mehr als Dank und gute Worte schuldig.«
»Wofür?«
Gabriel seufzte. Er senkte die Stimme und beugte sich zu seiner Frau hinab. »Dafür, dass sie mir nach ihrem Tod ihren Leib zur Verfügung stellen. Es ist ein bitteres Geschäft, aber die einzige Möglichkeit, mehr über die Funktionsweise der Empfängnisorgane zu erfahren.«
»Gabriel!« Sidonia hielt sich die Hand vor den Mund, um einen Würgereiz zu unterdrücken. Die Bilder, die in ihr hochstiegen, waren mehr, als sie verkraften konnte. Blutige Klingen, aufgeschlitzte Bauchdecken, sorgsam zerteilte Leiber, denen Gabriel mit Messern das Mysterium der Schöpfung entreißen wollte.
Ihr Mann fasste sie bei der Schulter. »Ich sagte dir, es ist besser, du weißt nicht alles. Mit dem, was ich tue, riskiere ich mehr als unsere Liebe.«
»Dein Leben«, flüsterte Sidonia. »In Köln steht auf Leichenschneiderei die Todesstrafe.«
»Nicht nur in Köln«, erwiderte Gabriel abfällig. »Die ganze christliche Welt würde mich deswegen hinrichten. Darum glaubt die christliche Welt auch immer noch, der Bauch der Frau sei in sieben Kammern aufgeteilt, in denen hübsch getrennt Knaben und Mädchen wachsen, oder dass die Frau keine Unterhosen tragen darf, damit der Wind sie von sündigen und fruchttötenden Ausdünstungen befreit! Die antike, die arabische und die jüdische Medizin weiß mehr über die Funktionen unseres Leibes als jeder christliche Arzt, der den forschenden Verstand, den Gott ihm gab, nicht gebrauchen darf.«
»Ich flehe dich an. Bleibe hier. Ich will nicht, dass du dich in solche Gefahr begibst. Dich zu verlieren wäre auch mein Tod!«
Gabriel küsste sie. Nicht schmelzend wie vorhin, sondern zum Abschied. » Querida , ich gehe doch nur zu einer kranken Frau.«
»Hoffst du, dass sie stirbt?«, fragte Sidonia entsetzt.
»Ich bitte dich! Mein Eid verpflichtet mich, alles zu tun, um Leben zu retten. Vertrau mir. Und schließe das Tor hinter mir, wenn ich fort bin.« Er machte dem Leuchtmann ein Zeichen und entfernte sich mit schnellen, festen Schritten.
»Der Herr beschütze dich«, murmelte Sidonia mit gesenktem Blick und übersah den huschenden Schatten, der sich in den Hof stahl, nachdem Zimenes und der Leuchtmann in der Nacht verschwunden waren. Das Mondlicht malte ihn als Schemen auf die Innenmauer des Hofes. Der Schatten trug einen Krempenhut und tauchte blitzschnell unter der Schaubühne ab, als Sidonia den Hof querte, um die Torflügel zu schließen.
V IERTER T EIL
D ER T OD
F ÜRCHTE DEN SCHWARZEN R EITER NICHT .
E R TRÄGT DAS B ANNER DER WEISSEN R OSE UND LENKT SEIN P FERD DEM M ORGEN ENTGEGEN .
D ER H ERR DER LETZTEN D INGE TRÄGT DEN K EIM ALLEN A NFANGS IN SICH .
Mariflores Zimenes, »Die Geheimnisse des Tarots«
1.
K ÖLN, IN DER N ACHT VOM 17. AUF DEN 18. J ANUAR 1536
»Hört, ihr Leut’, und lasst euch sagen,
Unsre Glock ‘ hat zwölf geschlagen.
Zwölf, das ist das Ziel der Zeit,
Mensch, denk an die Ewigkeit.«
Der Gesang des Nachtwächters verhallte in der Gasse, als Sidonia mit müden Schritten die Treppe zum ersten Stockwerk hinaufstieg. Es hatte keinen Sinn mehr, auf Gabriel zu warten. Manchmal blieb er die ganze Nacht über fort, und
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