Das Geheimnis der Tarotspielerin: Zweiter Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
das morgige Fest bedeutete einen langen, anstrengenden Tag.
In der Hand trug sie einen flackernden Kienspan. Alle Türen waren verschlossen, alle Läden zugeklappt, die Feuer gelöscht. Das Haus schlief. Sie passierte die Kapelle und wollte eben die Tür zu ihrem Schlafzimmer öffnen, als sie unter der Tür von Lunettas Gemach einen Lichtschein wahrnahm.
Zögernd klopfte sie an.
Lunetta schreckte hoch und klappte das Buch zu.
»Was ist?«
»Darf ich hineinkommen?«
Lunetta lief zur Tür und öffnete sie. Als sie das erschöpfte, sorgenvolle Gesicht ihrer Freundin sah, zog sie sie wortlos über die Schwelle. Sidonia steckte den brennenden Kienspan in den Schlund eines tönernen Maulaffen, wo er gefahrlos weiterbrennen konnte. Dann setzte sie sich zu Lunetta auf das Pfostenbett und ergriff deren Hand. Ihr Blick fand das Buch auf dem Nachtkasten. Sein Einband war mit schweren Deckplatten aus Silber und grünen Nephritsteinen verschönt, von denen es hieß, sie schützten vor bösen Geistern. Bewundernd betrachtete Sidonia das Buch.
»Dein Vater hat das Buch neu binden lassen. Welch ein Schmuckstück es ist.«
»Ja«, sagte Lunetta. »Vielleicht wollte er so das Andenken an Mutter ehren, auch wenn er sie sonst kaum erwähnt.«
»Ach, Lunetta, er liebte sie so sehr, er kann es nicht ertragen, an sie erinnert zu werden und an seine vermeintliche Schuld…«
»Ich weiß«, sagte Lunetta und senkte traurig den Blick. »Manchmal dachte ich, dass er mich dafür verabscheut, dass ich die Kunst meiner Mutter übernommen habe.«
»Das tut er gewiss nicht! Der schöne Bucheinband beweist es! Er weiß um deine besondere Begabung und ehrt sie. So wie ich.« Sidonia holte tief Luft. »Lunetta, ich habe eine Bitte. Befrage das Tarot für mich, nur ein einziges Mal. Du kannst doch mit dem Buch orakeln. Man schließt die Augen, blättert eine Seite auf, fährt mit dem linken Finger darüber und liest die Stelle, bei der das Herz schneller schlägt. Bitte.«
Lunetta runzelte die Stirn. »Es ist besser, gewisse Geheimnisse im Dunkeln zu belassen.«
Etwa, dass sie vorhin wie durch Zufall die Seite des Teufels aufgeschlagen hatte. Zufall? Es musste eine Warnung vor dem Tarot sein. Es musste … denn der Gedanke, dass mit dem Höllenfürsten Lambert van Berck gemeint sein könnte, war zu widerwärtig.
Und doch: Das Bild des Gehörnten, an dessen Thron ein nacktes Liebespaar gekettet war, spiegelte vieles von ihrer Angst vor Verführung und blinder Leidenschaft für einen Teufel wider, der das Antlitz eines Engels trug – Lambert.
Zu Lunettas Entsetzen griff Sidonia sich das Buch und schlug es auf. Nicht beim Teufel. Im Schein des Kienspans erkannte Lunetta die Karte. Es war keine der zweiundzwanzig Trumpfkarten, wie der Teufel, die schicksalhafte Geheimnisse anzeigten, sondern nur eine Hinweiskarte auf die Seelenlage des Fragenden, die zu den vierzehn Bildern der Schwerter gehörte. Schwerter wiesen immer auf Zweifel, Streit und Konflikte hin. Lunetta spürte, dass die Karte viel über Sidonia verriet, schwieg jedoch.
Sidonia starrte ratlos auf das Bild einer Frau im weißen Büßergewand. Ihre Augen waren verbunden, vor der Brust hielt sie zwei gekreuzte Schwerter in die Höhe. Sie thronte wie erstarrt auf einer steinernen Bank, mit dem Rücken zum Meer, das von Inseln durchsetzt war. In der Ferne leuchtete ein abnehmender Mond. Murmelnd las Sidonia die Notizen von Mariflores Zimenes:
»Zweifel, Abwehr, Blindheit. Ein verschlossenes Herz ist unempfänglich für das Fluten der Liebe. Öffne deine Seele, nimm alles an, was in dir ist, auch deine Schatten. Nur dann wirst du das Leben empfangen.«
Das Leben empfangen! Entsetzt ließ sie das Buch sinken. »Aber das ist nicht wahr! Das kann nicht mich meinen.«
Lunetta wandte den Blick ab.
»Ich liebe Gabriel von ganzem Herzen.«
»Hattest du nie Zweifel daran?«, fragte das Mädchen vorsichtig und dachte an den Wortwechsel vorhin im Hof.
»Nie.« Sidonia schüttelte energisch den Kopf. »Mein Gott, das Tarot lügt! Ich liebe ihn mehr als mein Leben.« Sie schleuderte das Buch zu Boden und schluchzte zu Lunettas Entsetzen laut auf.
Sidonia weinte! Nie hatte sie ihre einstige Retterin so hilflos gesehen. Zaghaft legte sie den Arm um die weinende Frau.
»Welche Frage hast du gestellt?«, wollte Lunetta wissen.
»Sag mir erst, was dieses Bild bedeutet!«
»Die Schwerter stehen für deinen Verstand, das Meer und der Mond für deine Seele und deine Gefühle. Die Frau auf dem
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