Das Geheimnis der Tarotspielerin: Zweiter Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
erschauderte. König Heinrich selbst – wie immer stolz auf seine Erfindungsgabe – hatte diese neue Form der Hinrichtung in einem Kessel ersonnen. Ganz London hatte vor zwei Jahren dem Siedetot von John Fishers Koch beigewohnt, der wegen einer Kritik an seinem Essen ein Brechmittel unter die Speisen des Bischofs gemischt und eher versehentlich drei seiner Tafelgäste getötet hatte.
Der Zwerg legte die Rechte auf sein Herz. »Ich schwöre dir, was ich will, ist völlig harmlos. Mein Herr wünscht, dass du auf deiner Kammer über der Puddingküche ein Gastlager einrichtest.«
Nells Augenbrauen zogen sich zusammen. »Für wen?«
»Sagen wir, für einen jungen Gehilfen.«
»Das darf ich nicht.«
»Ich bitte dich! Der Königin vom Puddingland wird der Küchenmeister keine Bitte abschlagen, und du hast genug zu tun, um eine Hilfe einzustellen.«
»Warum soll der Bursche bei mir schlafen? Er kann seine Matte wie alle Küchenjungen bei den Herdfeuern ausrollen.«
Der Zwerg schüttelte bedauernd den Kopf. »Das kann er nicht.«
»Ich werde weiterhin für Chapuys die Ohren spitzen«, zischte Nell, »aber ich beherberge keine fremden Spitzel.«
»Es handelt sich nicht um einen Spitzel, Nell. Und der Junge ist kein Junge, sondern ein Mädchen.«
»Ein Mädchen?«
Der Zwerg nickte. »Du kennst die strengen Hofgesetze. Nur Ehefrauen von Nobelmännern und die Damen der Königinnen haben Zutritt. Aber ein Mann wie Master Chapuys hat gewisse Bedürfnisse, will sich ab und an entspannen. Das Problem dürfte auch im Küchentrakt bekannt sein.«
Nell musste wider Willen kichern. »Ja, wie Mönche leben die Spießdreher und Pastetenbäcker nicht. Die eine oder andere Hure aus der Nachbarschaft schmuggeln sie mit den Binsenstrohlieferungen ein. Aber ich weiß mich zu wehren, meine schweren Puddingformen sind allseits gefürchtet, und zu Bett gehe ich stets mit der Feuerzange.«
Der Zwerg verzog amüsiert den Mund. »Oh, du grausame Nell. Man sagt, das mancher liebestolle Küchenknecht aus Verzweiflung sogar in Soldatenmanier nach Erleichterung bei den Knaben sucht.«
Nell schüttelte sich angewidert. »Ich hasse die Diener der verkehrten Venus! Das ist wider Gottes Gesetz.«
»Der Hof ist voll von ihnen«, bemerkte der Zwerg nüchtern. »Nun, um die neue Freundin meines Herrn vor allen möglichen Übergriffen geiler Küchenknechte zu schützen, muss sie bei dir und deinen Puddingformen schlafen.«
»Wann wird sie kommen?«
»Vielleicht morgen, vielleicht erst in einigen Wochen. Sie weilt noch fern von hier.«
»Ein spanisches Liebchen?«
»Gewiss.«
»Kann sie wenigstens kochen?«
»Wir Spanier sind berühmt für unser vorzügliches Essen«, erwiderte der Zwerg stolz.
»Das behaupten alle«, gab Nell verächtlich zurück.
Der Zwerg zuckte die Achseln. »Nun, zum Wasserschöpfen sollte es bei dem Mädchen reichen, und vergiss nicht, ihr eine zweite Feuerzange zu besorgen. Chapuys mag es nicht, wenn man ihr zu nahe kommt. Sie ist noch unberührt und soll es bleiben.«
4.
A NTWERPEN, AM SELBEN M ORGEN
Eisiger Ostwind strich durch Taue und Segel. Steif von Salz und Frost knatterten die Schiffswimpel. Heiseres Möwengeschrei mischte sich mit dem Klirren von Ankerketten. Ein klarer Morgen im Hafen von Antwerpen rötete die Gesichter der Ruderknechte, Schiffskommandanten, Karrenschieber, Zollschreiber und Kaufleute. Das bleifarbene Wasser der Schelde kräuselte sich in auslaufenden Wellenbewegungen. Unverkennbar setzte der Sog der Ebbe ein.
Zeit zum Aufbruch für die wenigen Schiffe, die die Kraft des Tidenwechsels nutzen wollten und stark genug für eine Überquerung des Kanals via England im Winter waren. Schon ertönten Kommandos zum Auslaufmanöver, legten sich Schleppboote längsseits zu einer prachtvollen Galeone, die unter niederländischer und hansischer Flagge segelte. Der Bug des Großschiffes war mit einer Drachenfigur bewehrt, deren Stahlkrallen weit ins Wasser ragten, um treibende Eisschollen zu verdrängen.
An Deck stand Lunetta, noch immer in Catlyns Beginentracht, und verfolgte in stummer Verzweiflung das Treiben am Kai. Karrenschieber trugen, rollten und schoben letzte Waren an Bord.
Dralle Krämerinnen boten aus glühheißen Kannen Würzwein feil, und nicht weit von ihr schwitzten Knechte im riesigen Laufrad eines Tretkrans, über den mehrere Schock Eibenholz in den Bauch der Galeone verfrachtet wurden. Holz für die berühmten englischen Langbögen, das jeder hanseatische Fernhändler neben
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