Das Geheimnis der Tarotspielerin: Zweiter Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
halten. »Teufel, alles Teufel, der Himmel stürzt, Herr, sende deine Engel aus!« Die Hure sank zurück in ihre Fieberträume.
Lunetta kniete sich neben das Bett und strich ihr erneut über die Stirn. »Du wirst leben, du musst«, flüsterte sie verzweifelt. Wenigstens ihren Onkel musste sie retten. Eine bleierne Stille lastete seit seiner Verhaftung und Lamberts Flucht auf dem Hause van Berck. Die ganze Familie war bedroht, Sidonia verzweifelt, ihr Vater krank vor Sorge, sein Vermögen beschlagnahmt. Die Fakturisten und Buchhalter hockten tatenlos in ihren Kammern unter dem Dach und klatschten über das Verhängnis, das über den Rüstungshändler hereingebrochen war. Einzig Tringin war ganz Tatkraft. In tiefes Schwarz gehüllt, kommandierte sie das Gesinde herum, ließ alles wienern und putzen, um die Sünde aus allen Ritzen zu scheuern und sich von dem schrecklichen Gedanken abzulenken, dass Lambert – ihr Liebling schon immer – ein Mörder war.
Niemand wusste, dass Lunetta sich auf den Weg zum Berlich gemacht hatte, aber sie wollte etwas tun und nicht einfach abwarten, bis Goswin mit einer Antwort auf ihren eilends geschriebenen Bittbrief an ihren Vater aus London zurückkehren würde.
Sie wusch rasch die kranke Mertgin, so gut es ging, klopfte die Strohmatratze glatt und legte ihr kühlende Tücher auf die Stirn. Als das getan war, beugte sie sich zu der Frau hinab. »Ich werde jetzt zu den Antonitern gehen, sie kennen Salben, lindernde Tränke, hörst du?«
Eine Hand legte sich leicht auf ihre Schulter. »Du kennst dich erstaunlich gut aus«, sagte eine sanfte Stimme hinter ihr. »Hast du das von Zimenes gelernt, oder vertraust du deinen Eingebungen?«
Lunetta erstarrte in kaltem Entsetzen. Wie so oft kam das Böse auf Taubenfüßen daher, und in den stillsten Worten lag die größte Grausamkeit.
Nein, sie musste sich nicht umdrehen, sie wusste, wem diese Stimme gehörte. Unter Tausenden würde sie sie wiedererkennen. Jederzeit.
»Du also«, sagte sie schlicht. Schlicht, wie die Warnungen des Tarots die ganze Zeit über gewesen waren. Warum hatte sie ihr rettendes, ihr schützendes Buch ausgerechnet vor dem Besuch auf dem Berlich nicht befragt!
3.
L ONDON , 24. J ANUAR 1536
Der König genas diskret von seinem Turnierunfall bei Greenwich. Sechs Tage zog er sich in die relative Stille seines Schlafgemachs zurück, zu dem nur sechs Edelleute und – über eine heimliche Treppe – sein Arzt Dr. Butts und ein Apotheker Zutritt hatten. Die leichte Breikost, die Pagen in den Küchen für den Monarchen bestellten und die Anlass zu düsteren Spekulationen gab, wurde als Fastenspeise bezeichnet. Heinrichs Verzicht auf Tanz, Jagd und Staatsgeschäfte entschuldigte man ebenfalls mit religiöser Einkehr. Niemand sollte den Verdacht hegen, er sei geschwächt.
Am siebten Tag gab der König Befehl, den Hof nach Hampton Court bei Richmond zu übersiedeln. Ein unauffälliger Schachzug, denn der gewaltige Hofstaat musste regelmäßig zwischen den Palästen hin und her ziehen, sobald ein Landstrich leergefressen, alles Wild gejagt und das Binsenstroh auf den Böden der Mannschaftssäle mit stinkenden Überresten der Mahlzeiten und den Karkassen toter Tiere verseucht war.
Die vorübergehende Auflösung der Hofgesellschaft und die Vorbereitungen gewährten Heinrich eine weitere Atempause, bevor er sich seinen achthundert Höflingen, den Lords, Baronen, Beamten, Politikern und Gästen wieder unbesiegbar und unverwundbar wie der rote Wappenlöwe der Tudors präsentieren würde.
Im ersten Zwielicht eines grauen Wintermorgens brach zunächst ein Tross aus achtzig Wagen auf, um über zweihundert Diener vom Zimmermann, Maler, Bratentrimmer, Puddingkoch, Laufpagen, Uhrensteller bis hinab zu den Feuerholzschlägern nach Hampton Court zu schaffen. Unter dem Kommando des Haushofmeisters waren ein halbes Dorf und entsprechende Ausrüstung unterwegs. Heinrichs Fanfarenbläser und Gardisten in roten Uniformen begleiteten den Zug. Sie hielten Ausschau nach Vagabunden und Lumpenvolk, das es aus der Umgebung von Richmond zu entfernen galt, bevor der Monarch und die Edelleute sich auf ihren Prunkbarken einschiffen würden, um den bequemeren Weg über die Themse zu nutzen.
In riesigen Truhen und Kisten wurden Bettlinnen, Vorhänge, Tapesterien, Teppiche und Kissen mitgeführt. Die Musikanten dösten über ihren Instrumenten, die Köche polierten ihre Pfannen, die jugendlichen Pagen entrollten ihre Strohmatten und schliefen neben
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