Das Geheimnis der toten Vögel
gemobbt und gezwungen worden war, vor den großen Jungs aus der Neunten die Unterhosen runterzuziehen. Das Gefühl der Machtlosigkeit war jetzt genauso groß wie damals, und er wünschte sich weit weg. Der Gedanke, das alles abwerfen, einfach in einem Nichts verschwinden zu können, hatte nichts Erschreckendes mehr. Was gab es noch, wofür man leben sollte? Malte natürlich. Aber ansonsten … gar nichts.
Sebastians Vater zu treffen und ihm sagen zu müssen, dass der Junge tot war, und dann den ganzen Prozess in seinen Augen widergespiegelt zu sehen – Misstrauen, Wut und die schreckliche Trauer –, das hatte die Trauer in ihm selbst mit voller Kraft ausbrechen lassen. Aber in dem Moment war es nicht um ihn gegangen, sondern um die Angehörigen. Und das war nur der Anfang. Vor einer knappen Stunde hatte er mit Morgan und den Leuten aus dem Krisenstab zusammengesessen. Der Leiter der Sozialverwaltung war am Telefon dabei, und gemeinsam hatten sie den unerhörten Beschluss gefasst, die Grenzen von Gotland mit Hilfe von Polizei und Militär abzuriegeln. Die Küstenwache würde zusätzliche Unterstützung bekommen. Die Häfen in Visby, Slite, Kappelshamn, Klintehamn und Ronehamn standen bereits unter Bewachung, und der Flughafen Visby war geschlossen. Der Beschluss war im nationalen Seuchenausschuss getroffen worden. Die Regierung war informiert.
»Welche Befugnisse haben Polizei und Militär, um jemanden aufzuhalten, der sich dem Verbot widersetzt?«, hatte er Åsa Gahnström gefragt.
»Alle Befugnisse«, hatte sie geantwortet, und ihre Stimme war sehr dünn gewesen. »Wir sind gescheitert. Jetzt im Nachhinein muss man sagen, dass wir Malin Bergs Kontakte besser hätten verfolgen sollen. Zu unserer Verteidigung kann man nur sagen, dass wir nicht die Ressourcen zur Verfügung gestellt bekommen haben, die wir gefordert hatten. Wir haben keinerlei personelle Hilfe aus anderen Landesteilen erhalten. Nicht einen einzigen Arzt, keine Krankenschwester, keine Pfleger. Keine antiviralen Medikamente, nur ein paar Beatmungsgeräte, zu wenig Atemschutzmasken, die Lieferungen von Antibiotika sind verspätet. Wir brauchen große Mengen an Material, nicht in einer Woche oder in vierzehn Tagen. Jetzt! Und die Putzfrauen weigern sich, hierher zu kommen. Sie wollen nicht mit dem infektiösen Müll in Berührung kommen und nicht die Zimmer der Patienten putzen müssen, weil sie finden, sie hätten nicht die richtigen Anweisungen und ausreichende Garantien bekommen, dass sie nicht angesteckt werden. Wir werden in Müll und Schmutz ertrinken, und es muss sich sofort jemand darum kümmern.«
»Ja, es ist wirklich übel. Ich habe den Müll gesehen. Es ist erschreckend«, sagte Morgan und rieb sich das geschwollene Kinn, wo ihn bei dem Aufruhr vor der Schule ein Stein getroffen hatte.
Åsa lehnte sich mit einem tiefen Seufzer im Stuhl zurück. »Als die Nachbarn von Malin Berg behaupteten, sie habe ihre Wohnung das ganze Wochenende über nicht verlassen, wollte ich das gerne glauben. Es war eine Erleichterung, sich auf anderes konzentrieren zu können, was mindestens genauso wichtig war, zum Beispiel Medikamente herbeizuschaffen. In dieser Situation müssten wir der ganzen Bevölkerung vorbeugend Medizin verabreichen können, und wenn wir eine Chance haben wollen, dann müssten wir am besten anfangen, das ganze Land zu impfen.«
»Der Gesundheitsminister hat schon im Februar, als der Bereitschaftsplan vorgestellt wurde, allen Impfungen versprochen«, warf Morgan ein.
»Zum Lachen, wenn es nicht so ernst wäre. So wie es jetzt aussieht, müssten wir die ganze Bevölkerung zweimal impfen, das sind achtzehn Millionen Dosen. Wo der Impfstoff herkommen soll, darüber hat er nichts gesagt.« Åsa Gahnström seufzte wieder und rieb sich die pochenden Schläfen. »Nein, das war das reinste Geschwätz, um die Leute zu beruhigen. Wenn es etwas gibt, was Verwirrung stiftet, dann sind es zweideutige Botschaften. In der Presse hieß es, dass es ein halbes bis ein Jahr dauern würde, einen sicheren Impfstoff zu entwickeln, und wenn es ihn gibt, dann heißt das noch lange nicht, dass wir ihn auch kaufen können. Die Länder, wo der Impfstoff produziert wird, werden mit größter Wahrscheinlichkeit erst ihre eigene Bevölkerung impfen wollen. Das ist wohl auch der Grund, warum wir keinen klaren Bescheid von ihnen bekommen. Und was machen wir jetzt? Wie begegnen wir der neuen Situation mit den katastrophal schlechten
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