Das Geheimnis der toten Vögel
mir zu Hause sind. Sie bleibt über Nacht und kümmert sich um beide Kinder. Nina ist irgendwo im Krankenhaus. Ich weiß nicht, wie es ihr geht. Ich meine, ich kann nicht beurteilen, ob sie krank ist oder ob sie zu viel getrunken hat oder wie ernst es ist.«
»Danke, ich weiß nicht, wie ich …«
»Ich würde gern heute Nacht bei Emil bleiben. Ich weiß, dass Sie nicht die Erlaubnis haben, Eltern hier übernachten zu lassen, aber er braucht mich jetzt. Ich muss bei ihm sein können, Sie dürfen mir das nicht verweigern.« Marias Augen wurden groß und rund und schwammen in Tränen. »Das Fieber ist angestiegen, und … es gibt immer noch keine Medizin, die Sie geben können, oder? Was wird passieren, Jonatan? Ich habe Angst, und ich sehe, dass Sie auch Angst haben, und das erschreckt mich.«
»Sieht man das so deutlich?«
»Ja. Warum kommt denn keine Hilfe von außen? Andere Länder müssen doch Bereitschaftslager haben, sodass sie uns helfen können. Zumindest aus reinem Selbsterhaltungstrieb. Warum passiert denn nichts?« Maria hörte selbst, dass ihre Stimme hart und vorwurfsvoll wurde. Sie merkte, wie er sich zurückzog. Er verschränkte die Arme über der Brust und wich ihrem Blick aus.
»Die Mühlen der Bürokratie mahlen langsam. Wir haben ein halbes Versprechen, eine kleine Menge Medikamente zu bekommen, wenn sie die Produktion wieder aufnehmen. Aber das wird nicht für alle reichen. Nicht auf lange Sicht jedenfalls. Solange die Vogelgrippe andauert, würden wir Medikamente für die ganze Bevölkerung Gotlands benötigen.«
»Wenn wir sie endlich herbekommen, wie viele werden bis dahin erkrankt sein? Wie viele werden sterben, gibt es eine Prognose? Entschuldigen Sie, ich sehe, dass Sie müde sind. Ich wollte nicht … aber ich mache mir solche Sorgen, dass ich nicht richtig steuern kann, was ich sage. Entschuldigen Sie.«
»Bleiben Sie heute Nacht bei Emil, aber sprechen Sie mit niemandem darüber. Wir haben keinen Platz für Eltern, die bei ihren Kindern übernachten wollen, keine Schutzausrüstung, keine Bettwäsche, und das Infektionsrisiko ist vorhanden, auch für Sie, ist Ihnen das klar?«
»Ja, das ist mir klar, aber ich kann nicht anders.« Sie öffnete wieder ihre Arme, um ihn zu umarmen, und diesmal ließ er es geschehen. Es lag ein Trost in ihrer Sanftheit, ihrer Wärme und auch in dem Weinen.
»Vorigen Sommer habe ich ein Buch über die Pest gelesen«, sagte sie, als sie sich beruhigt und aufs Sofa gesetzt hatte. »Es klang mehr wie ein spannendes Märchen und nicht wie eine vergangene Lebenswirklichkeit. Vielleicht kann man die Geschichte nicht verstehen, ohne sie zu erleben. Deshalb werden manche Fehler immer und immer wieder gemacht. Der Autor vertritt die Theorie, dass die Pest sich so schnell verbreitet habe, weil die Menschen vor dem Tod geflohen sind. Sie wussten nicht, dass sie selbst ansteckend waren, und so breitete sich die Krankheit wie ein Lauffeuer aus. Das ist genau der Fehler, den Sie zu verhindern versuchen, indem Sie die Grenzen der Insel abriegeln. Wird es noch bessere Möglichkeiten für die geben, die es bezahlen können? Ich habe gehört, die Politiker würden morgen früh evakuiert, das haben sie in den Nachrichten gesagt. Wer noch?«
»Ich weiß es nicht, ich bin nur ein gewöhnlicher Arzt. Solche Beschlüsse werden einige Etagen höher getroffen.« Er konnte nicht umhin, eine Strähne von ihrem Haar zu berühren, die ihr ins Gesicht gefallen war, er strich darüber und ließ sie zwischen Daumen und Zeigefinger hindurchgleiten. »Gehen Sie jetzt. Ich glaube, in dem Schrank in Emils Zimmer werden Sie eine Matratze finden, aber Decken gibt es leider nicht mehr.«
Maria stand auf und ging zur Tür, wo sie einen Augenblick stehen blieb, ohne das vorbringen zu können, was sie sagen wollte. Er sah sie forschend an. Fragte sich, ob sie unter der Maske lächelte oder ob sie wieder zu weinen begann.
»Ich mag Sie, Jonatan Eriksson, also, das wollte ich nur sagen … hm, das klang jetzt blöd.«
»Ich mag Sie auch sehr, Maria.«
Das Zimmer lag im Dunkeln. Nur ein kleines Nachtlicht brannte über Emils Nachttisch. Er hatte die Decke abgestrampelt. Die Stirn glänzte, der Haarschopf war verschwitzt zurückgestrichen, dennoch hatte er eine Gänsehaut. Maria unterdrückte den Impuls, ihn zu umarmen. Er würde aufwachen und brauchte doch seinen Schlaf. Doch er musste dennoch ihre Anwesenheit gespürt haben, denn er
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