Das Geheimnis der toten Vögel
schlug die Augen auf.
»Ich bin es nur, Emil. Ich schlafe heute Nacht bei dir.«
»Sterbe ich jetzt, Mama?«
»Nein, das lässt du schön bleiben.«
»Eltern dürfen nur hier sein, wenn man stirbt.«
»Ich habe von Jonatan eine Extragenehmigung bekommen, hier zu sein, weil du nicht so krank bist, aber es ist ein Geheimnis. Wir dürfen es niemandem erzählen.«
»Ich hab Sebastian gesehen. Er ist gekommen und hat sich genau auf den Stuhl gesetzt, auf dem du jetzt sitzt. Er hat nichts gesagt, sondern nur dagesessen.«
»Hast du das geträumt? Fandest du es schlimm?«
»Ich habe es nicht geträumt. Ich habe ihn gesehen, aber er war ganz klein, nicht größer als einer aus der ersten Klasse. Ich habe ihn gefragt, wie er hergekommen ist. Ob er geflogen sei. Und da hat er gelacht. Nicht so, dass man es gehört hat, aber ich habe gesehen, dass er gelacht hat. Ich habe keine Angst bekommen, ich habe mich darüber gefreut. Er sah nicht krank aus, sondern irgendwie ganz normal. Wie es wohl ist, wenn man tot ist? Ist man dann so eine Art Dampf? Kann man sich aussuchen, ob man Nebel sein will oder ein Mensch oder eine Wolke, die alles Mögliche werden kann – ein Gesicht mit großer Nase oder eine Hexe oder eine Sahnetorte oder ein schmaler Lichtstrahl, der durch ein Schlüsselloch fallen kann? Ob man selbst bestimmen kann, wo man sein will, wenn man tot ist? Was meinst du, Mama?«
»Ich hoffe, dass man sich wieder treffen kann, wenn man gestorben ist. Ich würde gern meine Oma Vendela wiedertreffen. Die habe ich sehr gern gemocht. Sie war am Ende ziemlich vergesslich und verwirrt, aber nett. Ich würde sie gern so treffen, wie sie war, als ich klein war, und dann würde ich auf ihren Schoß kriechen, und nichts würde mehr gefährlich oder schlimm sein.«
»Findest du, dass es jetzt gefährlich oder schlimm ist, Mama?«
»Ja, Emil, dieser Sommer verläuft ganz und gar nicht so, wie ich es gewollt habe.«
»Wenn du Angst hast, Mama, kannst du neben mir schlafen. Ich friere ein bisschen. Geht es dir dann besser?« Sie hörte ihn hinter der Maske lachen.
»Ja, dann geht es mir besser.«
Als Emil eingeschlafen war, kauerte Maria sich auf der unebenen Matratze auf dem Fußboden zusammen. Es war kalt, obwohl sie die Jacke anhatte, und wenn der Wind blies, dann knackte es in den Fensterrahmen des alten Hauses. Hier hatte Emil also allein gelegen und auf die Geräusche gehorcht. Jetzt, da Maria nicht länger seinen warmen Körper an ihrem spürte, brach die Sorge über sie herein. Sein Fieber war höher. Er war heiß wie ein Ofen, und doch fror er. Maria hatte darum gebeten, noch einmal mit Jonatan sprechen zu können, aber die Schwester sagte, er würde schlafen, und er brauche den Schlaf, um den nächsten Tag bewältigen zu können.
Emil atmete viel zu schnell. Er warf sich herum, wimmerte im Traum und jammerte von Sebastian. Maria stand auf und fühlte ihm die Stirn. Er schwitzte stark, wirkte aber ein wenig kühler. Sie versuchte, sich zu beruhigen, konnte aber nicht mehr still sitzen. Sie ging im Zimmer auf und ab und trat schließlich ans Fenster und schaute über den Garten, der vom Mondlicht erhellt wurde. Zwischen den Kiefern flatterte ein weißer Kittel. Jonatan. Auf dem Weg zu einer der Baracken. Wie lange hatte er sich ausruhen können, ehe er geweckt wurde, zwei Stunden, drei vielleicht? Ich mag dich sehr, Jonatan Eriksson, spürst du das? Kannst du meine Hand auf deinem Rücken spüren und meinen Arm um deine Schultern, jetzt, da du Kraft brauchst?
Etwas früher am Abend hatte Maria versucht, Krister anzurufen, um ihrer Sorge Luft machen zu können, aber er war ablehnend gewesen. »Begreifst du nicht, dass es ernst ist, dass dein Sohn krank ist?« Da war seine Stimmung umgeschlagen, und er war weinerlich geworden und hatte tausend Versicherungen gebraucht, dass alles bald wieder gut werden würde. Jetzt, da sie ihn wirklich brauchte, war er nicht einmal in der Lage, sich um Linda zu kümmern.
Maria sah das Scheinwerferlicht eines Autos, das auf dem Weg zum Sanatorium war. Es war ein Krankenwagen ohne Blaulicht und Martinshorn. Zwei Menschen in etwas, das Raumanzügen glich, gingen ins Haus und kamen nach einer kleinen Weile mit jemandem zurück, der auf einer Trage lag. Jonatan ging mit einer Tropfflasche in der Hand neben ihnen her. Sie sah ihn mit langsamen Schritten den Hof überqueren, nachdem das Auto das Gelände mit höchster
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