Das Geheimnis der toten Voegel
nicht aufzuhalten. Eine ältere Frau war stehen geblieben und hatte ihr übers Haar gestrichen.
»Was ist denn los?« Und Åsa war mit ins »Bügeleisen« gegangen und hatte eine Tasse Kaffee getrunken. Als sie da drinnen von ihren Sorgen erzählen sollte, war sie sich albern und verwirrt vorgekommen und hatte eine Halbwahrheit über Rückenbeschwerden hervorgestottert.
»Nun ja, etwas mehr als das wird es aber doch gewesen sein, nicht wahr?« Die ältere Frau besaß ein so ernsthaftes und doch freundliches Lächeln, und ihre zichorienblauen Augen hatten direkt durch die Schale geblickt, hatten sie als das kleine Mädchen gesehen, das sie in diesem Moment gewesen war.
»Etwas mehr als das war es schon«, hatte Åsa zugegeben. »Ich bin nicht gut genug.«
Da hatte die Frau gelacht, ein warmes und freundliches Lachen. »Das macht nichts, niemand ist gut genug. Man muss versuchen, sich selbst zu verzeihen, dass man nicht perfekt ist. Niemand ist perfekt. Das ist das große Geheimnis. Wir tun nur so. Als ich fünfzig wurde, habe ich beschlossen aufzuhören, mich zu schämen. Ich arbeite immer noch daran. Wann wollen Sie anfangen? Wenn Sie jetzt anfangen, sind Sie, bis Sie in mein Alter kommen, vielleicht frei wie ein Vogel. Möchten Sie ein Papiertaschentuch?« Sie wühlte in ihrer Handtasche und holte ein Paket mit zerknitterter Plastikhülle hervor.
Danach fühlte Åsa Gahnström sich erstaunlicherweise besser, auch wenn die Probleme dieselben waren wie vor der Mittagspause. Der entsetzliche akute Mangel an Medikamenten gegen die Vogelgrippe und an gewöhnlichen Antibiotika. Aber nicht nur das. Alle Personen, die Samstagnacht mit Petter Cederroth Taxi gefahren waren, abgesehen von dem Kollegen Reine Hammar, waren mit der Vogelgrippe infiziert – und eine Person wurde vermisst. Genau in dem Moment, als man annehmen durfte, dass die Epidemie unter Kontrolle sei, war eine Lücke entdeckt worden. Eine unbekannte blonde Frau, die sich das Taxi mit Reine Hammar geteilt hatte. Bis das Gegenteil bewiesen war, musste man davon ausgehen, dass auch sie infiziert war. Das Gespräch mit Reine Hammar war zu einem regelrechten Streit ausgeartet, und es hatte damit geendet, dass sie ihm gedroht hatte, wenn er nicht zusammenarbeiten wolle, würde sie wegen weiterer Informationen mit Frau Hammar Kontakt aufnehmen. Und plötzlich hatte sich die Erinnerung aufgehellt, und eine Adresse war aus dem Gedächtnis gesickert. Mit Hilfe der Polizei hatte man einen Namen und eine Telefonnummer herausbekommen, doch trotz wiederholter Versuche war keine Malin Berg anzutreffen gewesen. Der Arbeitgeber, ein Restaurantbesitzer im Außenbezirk der Stadt, sagte, Malin Berg habe sich am Sonntag krank gemeldet. Nichts Ungewöhnliches. Es sei nicht der erste Montag gewesen, an dem sie nicht zur Arbeit gekommen sei. »Offenbar ein anstrengendes Privatleben«, sagte er in ironischem Ton.
Mit der Zustimmung der Staatsanwaltschaft gab es jetzt den Beschluss, in die Wohnung einzudringen, um zu sehen, ob die Frau da war. Aber welcher Arzt würde freiwillig hineingehen? Trotz wiederholter Aufrufe im Radio und Fernsehen, dass das Krankenhauspersonal dringend Verstärkung benötigte, hatte sich niemand, nicht ein einziger Mensch gemeldet. Einer der Angefragten hatte auf eine frühere SARS-Epidemie hingewiesen, während der zwei Narkoseärzte trotz Schutzausrüstung angesteckt worden waren. Die Gewerkschaft und der Ombudsmann für Arbeitsschutz waren einbezogen worden, und die Verhandlungen würden kommende Woche beginnen. Konnte man jemanden zwingen, seine Gesundheit und vielleicht sein Leben aufs Spiel zu setzen? Man hatte schließlich mit der Einsatzmannschaft der Infektionsklinik in Linköping Kontakt aufgenommen. Die müsste inzwischen in der Jungmansgatan eingetroffen sein, und man durfte jeden Moment mit einer Nachricht von ihnen rechnen. Åsa Gahnström hoffte, dass die Frau in einem so guten Zustand war, dass sie noch sagen konnte, wen sie seit Samstag getroffen hatte. Der ganze Plan zur Eingrenzung der Infizierung hing jetzt daran.
Åsa bedankte sich für die Tasse Kaffee, die ihr eine wohlmeinende Krankenschwester zusammen mit einem Teller, auf dem ein Käsebrot und ein paar Kekse lagen, auf den Tisch stellte. Der schöne Meeresblick aus dem Fenster der Infektionsstation wurde von den Baugerüsten verdeckt, die die Rezeption in einen immerwährenden Schatten hüllten. Wenn man sich ans Fenster stellte, konnte man einen schmalen Streifen des
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