Das Geheimnis der versteinerten Traeume
man nicht, Spinnweben seien stärker als Stahl? Rasch ließ er die Traumenergie in die feinen Fäden strömen. Das Netz wuchs rasend schnell. Und es bewegte sich.
»Ich kann keinen Klotz am Bein gebrauchen«, fauchte der König und zog so brutal am Strick, dass der Gefangene ihm in die Arme stolperte. Zul legte ihm die Pranken um den Hals. Speichel spritzte dem Jungen ins Gesicht, als er zischte: »Wenn du nicht sofort kommst, töte ich dich.«
»Fragt sich nur, wer hier wen umbringt«, erwiderte Benno grinsend und sah nach oben.
Zuls Augen verengten sich. Die gute Laune seiner Geisel schien ihn zu irritieren. Er blickte ebenfalls zur Decke.
In diesem Moment sprang ihn das Spinnennetz an. Lebendige Stränge zogen sich wie robuste Spanngurte fest um den König und seinen Gefangenen. Letzterer hatte sich das Timing eigentlich anders vorgestellt. Es gab eine Million erfreulichere Dinge, als zusammen mit einem Massenmörder wie ein Rollbraten verschnürt zu werden.
Zul hatte die Hände von Bennos Hals genommen und kämpfte verbissen um die Freiheit. Binnen Sekunden waren seine Arme bewegungsunfähig. Für die Füße brauchte das Netz etwas länger. Mit letzter Kraft schaffte er es, sich und seine Geisel in die Drusenkammer zu schleppen. Seine Leibwächter hatten sich beiderseits des Tores an die Kristallwände gepresst, um möglichst nicht von den Speerwerfern jenseits des Wasserfalls gesehen zu werden.
»Schneidet mich los!«, presste Zul hervor.
Die Hyänenschweine zögerten. Hatten sie von ihrem Schöpfer etwa doch einen Funken von Selbsterhaltungstrieb mitbekommen? Aus dem toten Winkel an den Torseiten herauszutreten, würde sie erneut in die Schusslinie des unsichtbaren Gegners bringen.
Wütend versuchte der König auf den nächstbesten Befehlsverweigerer zuzutrippeln, um ihm seinen Zorn direkt ins Gesicht zu schreien. Dabei verhedderten sich seine Beine und die seines Gefangenen vollends im Geflecht des Netzes.
Als Benno merkte, wie er zusammen mit seinem Peiniger umkippte, kniff er die Augen zu, um sich für den Schmerz zu wappnen. Sollte das illúsische Schwergewicht auf ihm landen, würde es ihm sämtliche Rippen brechen.
Der Aufprall verlief überraschend sanft. Er war oben geblieben und überstand den Sturz ohne Blessuren.
Zul kam weniger glimpflich davon. Er schrie vor Wut und rollte sich zur Seite, bis er mit seinem Anhängsel gegen ein Hindernis stieß.
Benno stach ein beißender Geruch in Nase, der ihn an ein Raubtiergehege erinnerte. Als er vorsichtig die Lider anhob, blickte er in die toten Augen eines Hyänenschweins. Vor Schreck riss er den Kopf nach hinten und versuchte sich aufzubäumen. Über den Kadaver hinweg kam das Traumtor in Sicht. Aus der rauschenden Gischt traten zwei menschliche Gestalten.
Auf dem Weg zurück zur Schlafkammer fragte sich Leo, was da zu Bennos Füßen geschimmert hatte. Die Frage wurde nebensächlich, als er das Traum-Ich des Hausmeisters wie einen Mission-Impossible-Agenten in der waagerechten Schwebe über Osmund Okumus vorfand. Sie sahen einander mit so viel Feindseligkeit
an, dass es Leo nicht verwundert hätte, wenn zwischen ihren Nasen Funken übergesprungen wären.
»Du bist zu früh!«, zischte der Wächter von Salem. Der Verräter stand im Begriff, zwei Wehrlose mit spitzen Tropfsteinen zu ermorden.
»Nein, Sie sind zu spät«, kam die Antwort des Lehrers von tief unten aus seiner Kehle.
Leo kehrte in den eigenen Körper zurück. Hubers Gemeinheit hatte ihn bis ins Mark getroffen. Sein Geist war auf einmal wie leer gefegt. Gegen ein Traum-Ich konnte man sich nicht mit Fäusten wehren. Was sollte er tun?
Plötzlich erbebte das Höhlensystem unter einem gewaltigen Donnerschlag. Eine Druckwelle raste durchs Labyrinth. Okumus riss die Augen noch weiter auf. Der Tropfstein über ihm – er war mindestens fünfzig Zentimeter lang – brach ab und fiel. Leo spannte die Bauchmuskeln, setzte sich auf und schlug nach dem herabstürzenden Spieß. Seine Rechte fuhr mitten durch Hubers Traum-Ich hindurch und traf den Stalaktiten, kurz bevor dieser sein Ziel erreichte.
Okumus schrie. Der Schmerz fegte ihn aus der Luzide.
Entgeistert starrte Leo auf den Zapfen, der aus der Schulter seines Freundes ragte. Der Schlag hatte das Mordinstrument zwar abgelenkt, doch nicht mehr ganz aus dem Weg fegen können.
»Du …!«, brüllte Huber. Er blitzte den Vereitler seiner Bluttat aus hasserfüllten Augen an.
Leo vernahm über sich ein Knacken. Instinktiv rollte
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