Das Geheimnis der versteinerten Traeume
einer einzigen Insel entstanden und auf dieser gab es ursprünglich nur ein Traumtor. Daher sind sämtliche Übergänge zwischen unseren Welten untereinander verbunden. So wie ein Schienennetz.«
»Und Leo stellt die Weichen um?«, fragte Theresa.
Orla nickte und wandte sich wieder ihrem Freund zu. »Wir sollten uns beeilen. Die große Finsternis wartet nicht.«
»Willst du nicht doch lieber hierbleiben?«, erwiderte er. »Es könnte gefährlich werden.«
»Kommt gar nicht infrage. Außerdem brauchst du eine Dolmetscherin. Illúsion hat sich seit deinem letzten Besuch verändert. Es verschmilzt mit deiner Welt. Ich fürchte, du wirst das alte Rapanui – die Sprache meiner Ahnen – nicht mehr verstehen.«
»Na schön. Ich hoffe nur, die Neunundsechzig haben bessere Manieren als Refi Zul.« Er winkte seinen Freunden noch einmal zu, rief ein letztes Lebewohl und trat mit der Illúsierin in die Drusenkammer. »Hoffentlich finden wir überhaupt die richtigen Wächter«, raunte er ihr zu. Viele der steinernen Figuren auf der Osterinsel waren Nachbildungen der ursprünglichen Statuen, erschaffen von den polynesischen Siedlern, die sich nach der großen Naturkatastrophe auf der Felseninsel niedergelassen hatten.
»Die meisten Moais von Rapa Nui stammen aus dem Krater des Rano Raraku. Hab ich auf der Website einer chilenischen Uni gelesen. Ich bin mir fast sicher, dass wir im Kessel des Vulkans auch die versteinerten Ratsherren finden.«
»Bald wissen wir es.« Leo deutete aufs Tor. »Soll ich?«
»Wenn’s nicht zu lang dauert.«
Er grinste und gab sich brüskiert. Dann schloss er die Augen und dachte nach.
»›Sesam öffne dich!‹ ist schon vergeben«, flüsterte sie.
»Pscht!«
Einige Herzschläge später hatte er den Schlüssel gefunden. Er lächelte Orla an, benetzte seine Lippen mit der Zunge und flüsterte in ihr Ohr: »Ich liebe dich.«
Sie sah ihn verdutzt an. Dann lächelte sie verlegen und erwiderte ebenso leise: »Wir brauchen einen Geistesblitz, Leo, etwas Neues .«
»Das ist es für mich ja auch. Vorher habe ich das noch nie zu einem Mädchen gesagt. Und was hat größere Kraft als die Liebe?«
Ehe sie etwas erwidern konnte, nahm das Glitzern auf den Kristallen unversehens zu. Wenig später rauschte das Traumwasser durch die Kammer. Wie zuvor lief die Druse aber nicht voll, weil der Quell nach Illúsion abfloss.
»Sind wir richtig? Ist das die Osterinsel?«, fragte Leo.
Orla ergriff seine Hand. »Das werden wir gleich sehen.«
Sogar die sonst so nüchternen Wissenschaftler waren dünnhäutig geworden. Schon beim Stich einer Mücke zuckten sie zusammen, als habe Leo sie getroffen. Der Himmel war klar und die Mittagssonne schien angenehm warm auf die Osterinsel herab. Man konnte den Schweifstern mit bloßem Auge sehen. Die Astronomen hatten trotzdem ihre Fernrohre auf dem Puakatike aufgebaut, um das beeindruckende Naturschauspiel in allen Einzelheiten zu beobachten. Es war ein buntes Völkchen, das eher auf das Happening einer Hippiekommune schließen ließ als auf ernsthafte Forschungsarbeit. Dazu trugen etliche Sterngucker aus der Amateurliga bei, die sich im friedlichen Miteinander unter die Fachleute gemischt hatten. Zu den Freaks, die am letzten Tag ihres Lebens nichts Besseres zu tun hatten, als Himmelsphänomene zu studieren, gehörte auch Doktor Alan Levitt vom Smithsonian Astrophysical Observatory aus Cambridge, Massachusetts.
Alan war mindestens so erschrocken wie seine Kollegen, als bei den Bäumen, nur ein paar Schritte hinter ihnen, plötzlich
wie aus dem Nichts ein Sturzbach niederging. Alle sahen überrascht nach oben. Keine Wolke war zu sehen. Als der Guss wenige Sekunden später aufhörte und die Astronomen ihre Blicke wieder senkten, gewahrten sie in der Pfütze einen nassen Jungen in einer dunkelblauen und ein nicht minder nasses Mädchen in einer roten Regenjacke.
»Ist voller, als ich gedacht habe«, sagte Leo auf Deutsch. Er ließ Orlas Hand los, streifte die Kapuze vom Kopf, öffnete den Reißverschluss der Jacke und schüttelte sie aus.
Sie nickte, während sie es ihm gleichtat.
Alan fand seine Fassung zuerst wieder, lief zu den beiden und sagte auf Englisch: »Deine Stimme kommt mir bekannt vor. Bist du … der Kometenentdecker?«
Die Zuschauer im Hintergrund murmelten erstaunt.
»Ja«, antwortete der Gefragte. »Und Sie hören sich wie Doktor Levitt an.«
»Du kannst Alan zu mir sagen. Hoch erfreut, dich kennenzulernen.« Er schüttelte beiden die
Weitere Kostenlose Bücher