Das Geheimnis der versteinerten Traeume
ihr ihn einem Schüler oder Lehrer ins Bett gelegt?«
»Es war kein Streich. Ich …« Er fühlte sich verunsichert, weil sie mit ihrer Vermutung der Wahrheit so nahekam. Was sollte er sagen? Leo war eine ehrliche Haut. Schon gar nicht wollte er dieses Mädchen beschwindeln. Also antwortete er: »Ich bin nur Schlafwandler.«
Ihm wurde heiß, als ihre sonderbaren Augen ihn hierauf noch intensiver musterten. Quietschend bewegte sich die Klinke an
der Tür gegenüber. »Erzähl mir davon nach dem Unterricht«, sagte Orla leise. »Treffen wir uns kurz nach drei bei der alten Mühle.«
Sie drehte sich um und entschwand in einen Nebengang.
Leos Blick ruhte noch eine ganze Weile auf der Stelle, wo er sie aus den Augen verloren hatte. Also in einem Punkt musste er Benno widersprechen. Dieses Mädchen war bei Weitem nicht so kalt wie eine Nixe.
Die Tür des Direktors öffnete sich. Seine Frisur sah an diesem Morgen besonders zerzaust aus, so als habe er sich die Haare gerauft. Mit ernster Miene betrachtete er durch seine verschmierte Brille den Jungen auf der Bank. Ohne ein Wort winkte er ihn zu sich ins Büro.
Sie saßen an einem runden Besprechungstisch, was der Unterhaltung wohl eine zwanglose Note verleihen sollte. Leo war trotzdem ungeheuer angespannt. Dabelstein sah besorgt aus. In aller Ausführlichkeit hatte er sich den Nixenvorfall schildern und sich Bilibibbs Schuppe zeigen lassen. Außer dem Direktor und dem Schüler war niemand in dem Raum, der früher offenbar repräsentativen Zwecken gedient hatte. Kostbare Wandmalereien und Stuckverzierungen kündeten noch vom ehemaligen Wohlstand der Reichsabtei Salem.
»Hat sie mit dir etwas … angestellt?«, erkundigte sich der Internatsleiter nebulös.
»Angestellt?«, echote Leo.
»Na, abgesehen von dem Abschiedskuss am See. Gab es da … irgendwelche … Handgreiflichkeiten? «
Nun erst begriff Leo, was der Direktor meinte, und schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Ich war viel zu schnell aus dem Bett. Außerdem, wie soll man mit einer Nixe…?«
»Schon gut. Wir brauchen das jetzt nicht weiter vertiefen«, unterbrach ihn Dabelstein und atmete erleichtert auf.
»Darf ich den Kuss … äh … ich meine die Schuppe behalten?«
»Das solltest du sogar. Hoffentlich erinnert sie dich immer daran, dass man sich mit seinen Träumen vorsehen muss. Allzu leicht werden sie wahr und die große Reue kommt.«
Leo ließ Bilibibbs Abschiedsgeschenk schnell in der Hosentasche verschwinden.
»Ich bitte dich allerdings, über die Angelegenheit Stillschweigen zu bewahren«, ermahnte ihn Dabelstein streng. »Der Hamburger Vorfall mit dem Wetterhahn dürfte dir gezeigt haben, wie die Medien Gerüchte und Halbwahrheiten aufbauschen. Nicht auszudenken, wenn die Gazetten behaupteten, unsere Schüler holten sich barbusige Schönheiten ins Bett. Ich bin mir nicht mal sicher, ob die Wahrheit in diesem Fall das Geringste verbessern würde. Das Internat kann sich eine solche Presse einfach nicht leisten.«
»Ich werde schweigen wie ein Grab«, versprach Leo. Das hatte er schon immer einmal sagen wollen.
Der Direktor nickte abwesend. Er schien mit sich zu ringen, so als wisse er nicht, ob er aussprechen sollte, was ihm auf dem Herzen lag. »Neulich habe ich dir erklärt, was ein Traumschmied ist, wollte mich zu einer speziellen Art von Begabung aber noch nicht weiter äußern«, begann er schließlich. Er klang deutlich souveräner als beim Thema Sexualität. »Für die weitaus meisten Schüler unserer Akademie sind luzide Träume das Komplizierteste, was sie je zuwege bringen werden. Bei manchen allerdings – den Schlafverwandlern – kommt es zur sogenannten ›Realisierung‹. Das heißt, bestimmte Details werden aus der Traumwelt in die Wachwelt versetzt …«
»Sie meinen die Traumgeborenen?«
»Wer hat dir davon erzählt?«
»Mein Zimmergenosse, Benno Kowalski.«
»Ah, der sommersprossige Wortverwechsler! Ohne ihm Unrecht tun zu wollen, aber Benno wird wohl nie so wie du zu den Schlafverwandlern gehören. Übrigens bringt die Realisierung selten Fantasiegeschöpfe hervor, wie deinen Minidrachen oder die Nixe. Meistens beschränkt sich die Gabe auf gewöhnliche Dinge, deren plötzliches Erscheinen niemandem auffällt. Sogar die häufigsten Fantasiegegenstände – Schwerter, Schatzkarten und goldene Kompasse – sind heute nichts Besonderes mehr. Wer so was braucht, bestellt es sich im Internet.«
»Mit Seejungfern hat man’s da schon schwerer«,
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