Das Geheimnis der versteinerten Traeume
großen Teil des Vormittags damit zu, Orlas bizarr frisierten Hinterkopf anzustarren. Sie saß in der ersten Reihe. Jede ihrer Bewegungen wurde von ihm genauestens beobachtet, so als wäre sie ein seltener Vogel und er ein Ornithologe. Sie umgab irgendetwas Geheimnisvolles, das er sich nicht zu erklären vermochte.
Gelegentlich erhaschte er einen Blick auf ihr Profil, das mit der geraden Nase, den aufregend gewölbten Lippen und dem keck gerundeten Kinn noch die Schönheit seiner traumgeborenen Bilibibb übertraf. Einmal drehte sie sich zu ihm um und sah ihn direkt an. Ob sie etwas an ihm fand? Er lief rot an und zwang sich Frau Holzheimer anzusehen, was ihm wie eine kalte Dusche nach einem Sonnenbad vorkam.
Margrit Holzheimer unterrichtete die Klasse in Traumgeschichte und Musik. Gewöhnlich gut informierte Kreise der Schülerschaft setzten ihr Alter auf sechsundvierzig Jahre an. Sie bestand darauf, mit »Fräulein« angesprochen zu werden. Ihr Markenzeichen waren grob strukturierte Wollkostüme mit schmal geschnittenen Röcken und kragenlosen, an den Rändern mit Borten eingefassten Jacken, die aussahen, als seien sie in den 50er Jahren von der Modeschöpferin Coco Chanel entworfen worden. Auch die strassbesetzte schwarze Brille mit den merkwürdigen Flügelspitzen passte in diese Zeit. »Die Holzeimer«, wie Benno sie nannte, konnte maximal einen Meter sechzig sein und wog vermutlich kaum fünfzig Kilo. Sie war eher der zähe Typ, ihr Gesicht wirkte verhärmt. Die halblangen Haare brachte
sie augenscheinlich mit Lockenwicklern der Größe XXL in Form und begoss sie regelmäßig mit rotblonder Farbe. An diesem Morgen erzählte sie Geschichten über Morpheus, den griechischen Gott des Traumes.
Danach war Traumdeutung dran. Anders als von Leo erwartet, ging es in dem Fach nicht etwa um Wahrsagerei aufgrund von Traumbildern. Vielmehr beschäftigte es sich mit der Frage, wie sich bestimmte Seelenzustände in einem Traumgeschehen widerspiegelten. Die Lektion an diesem Vormittag widmete sich jener Kategorie von Träumen, in denen man einem Ziel nahekommt, es infolge von Fehlschlägen oder anderen misslichen Einflüssen aber nie erreicht. Die Ursachen waren, wie Leo lernte, oft Versagensängste oder extremer Stress.
Der Unterricht im Klassenverband endete an diesem ersten Tag mit Theorie und Praxis des luziden Träumens. In diesem Fach hatten sie Okumus als Lehrer. Er begrüßte die Schüler grundsätzlich mit den Worten: »Salve, Oneironauten!« – seid gegrüßt Traumschmiede.
Die Hausaufgaben sagte er – in TPLT völlig normal – gleich zu Beginn der Lektion an: »Morgen Nacht werdet ihr im Traum übers Wasser gehen. Das ist schwerer, als es sich anhört, weil die Vorstellungskraft etwas eigentlich Unmögliches zuwege bringen muss. Heute fangen wir, damit ihr nach den Ferien wieder in Übung kommt, ganz leicht an. Beschafft euch den Pokal des DreamTeams. Kann jemand für unsere Neuen erklären, was ich meine? Wie wär’s mit dir, Benno?«
Der Kopf des Angesprochenen ruckte nach oben. Offenbar hatte er schon an seinem Traum gearbeitet. »Das DreamTeam? Äh … also, das sind die Gewinner.«
»Etwas genauer bitte.«
»In jedem Schuljahr müssen alle Klassen verschiedene Aufgaben
bewältigen. Wer die meisten Punkte einheimst, bekommt den Henkeltopf. Er wird im Terror des Diktators aufbewahrt.«
»Du meintest sicher den Tresor des Direktors , aber ansonsten war deine Erklärung richtig. Danke, Benno.«
»Lackaffe«, grummelte der vor sich hin.
Der Lehrer hob die Augenbrauen. »Wolltest du noch etwas sagen?«
»Nee. Für heute hab ich genug.«
»Ausruhen kannst du dich später. Erkläre bitte deinem neuen Zimmergenossen, was den Unterschied zwischen Luziden und einem Allerweltstraum ausmacht.«
»Der erste wird von dir kondoliert, der zweite kondoliert dich.«
»Mit Beileid aussprechen hat das nichts zu tun. Hättest du kontrolliert gesagt, wäre die Erklärung korrekt gewesen.«
»Hab ich doch! Sie müssen schon besser hinhören.«
Okumus breitete beide Arme aus und rief in die Runde: »Was war diese Antwort?«
»Respektlos«, kam es im Chor zurück.
»Und wozu darf Benno dafür wieder am kommenden Montag um halb sieben antreten?«
»Zum Straflauf«, erwiderte die Klasse. Einige Schüler kicherten.
Der Ordinarius lächelte den Rotschopf an. »Irgendwann lernst du es auch, Kowalski.«
Der Gerügte ballte die Fäuste unter dem Tisch.
Leo fand die Art, wie Okumus seinen Freund hatte auflaufen
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