Das Geheimnis der versteinerten Traeume
das dem Salemer Schloss im Westen vorgelagert war und von Nordwest nach Südost etwa sieben Kilometer maß. Die Schüler nannten es gewöhnlich nur den »Forst«. Die Mühle lag kaum mehr als tausend Schritte von der Traumakademie entfernt. Der größte Teil des Weges führte durch die Schatten der Bäume.
Leo erreichte als Erster den von Orla ausgesuchten Treffpunkt. Das halb verfallene Gebäude lag hinter einer Bauabsperrung. Die dunklen Balken des Fachwerks sahen vermodert aus, ebenso die verputzten Füllungen. Zwei glaslose Fenster starrten ihm wie die leeren Augenhöhlen eines Totenkopfs entgegen.
Er duckte sich unter die Absperrung hindurch und nahm die Ruine genauer in Augenschein. Ihr Dach war zur Hälfte eingestürzt. Leo lief um das Haus herum. Dahinter floss ein Bach entlang. Das Mühlrad war aus der Verankerung gerissen und lehnte schräg an der Hauswand. Es sah so vermodert aus, als würde es jeden Moment auseinanderfallen …
Eine Berührung an der Schulter ließ ihn erschrocken herumfahren. Hinter ihm stand Orla. Mit ernsterer Miene, als ihm
lieb war. Er atmete anhaltend aus. »Der Bach ist so laut, da habe ich…«
»Wer bist du?«, unterbrach sie ihn barsch. Ihr grünen Augen funkelten angriffslustig.
»Ich bin Leo Leonidas«, antwortete er verdutzt.
»Ist das dein richtiger Name?«
»Ja. Ist griechisch. Bedeutet ›der Löwengleiche‹. Mein Vater hat ein Import-Export-Geschäft in Hamburg …«
»Oder bist du von den Traumjägern?«
»Wer soll das denn sein?«
»Die Geheime Schlafpolizei. Hat Refi Zul dich geschickt, um nach mir zu suchen?«
»Wer?«
»Refi Zul.«
»Nie von ihr gehört.«
»Refi ist ein Männername.«
»Ist das Arabisch?«
»Hältst du mich für bescheuert oder bist du so … ahnungslos?«
»Jetzt mach mal halblang. Ich hab keinen blassen Schimmer, von wem du sprichst.«
»Wirklich nicht?«
Leo stöhnte laut. Er musste sich einige weitere Sekunden lang Orlas Röntgenblick aussetzen, ehe sie das Verhör einstellte.
»Das ist die graue Eminenz hinter diesem ganzen Theater, das sich Traumakademie nennt«, erklärte sie. »Ich schätze, Robert Zaki ist einer seiner Statthalter. Jedenfalls spielt er Zul mit YourDream in die Hände. Seine Designerträume sind nicht so harmlos, wie er euch glauben machen will.«
»Das Gleiche sagt meine Mutter.«
»Na, wenigstens hat einer in eurer Familie den Durchblick.«
Leo grinste. »Sie findet, dass ich ein Genie bin.«
»Leidet sie manchmal unter Bewusstseinsstörungen?«
»Jetzt mal ehrlich, Orla. Was ist so schlimm an YourDream? In gewisser Weise ist das, was wir auf der Akademie lernen, auch nur künstliches Träumen. Sie nennen es nur anders.«
»Die Designerträume machen dich kaputt. Sie machen alles kaputt.«
»Das sagen sie genauso von den Ballerspielen.« So süß Leo dieses Mädchen fand, fragte er sich allmählich, ob es nicht ganz dicht war. Orlas Gerede kam ihm reichlich überspannt vor.
»Wenn du nur den Ahnungslosen spielst, dann bist du sehr überzeugend«, sagte sie. Ihre Miene entspannte sich ein wenig. »Du sollst ja ein schräger Typ sein, der im Schlaf die merkwürdigsten Sachen anstellt. Stimmt es, dass du einen Wetterhahn von einer Kirche geholt hast?«
»Das war ein Versehen.«
»Ach! Und was war in der Sänfte heute früh? Auch ein Versehen?«
Er biss sich auf die Unterlippe. Dabelstein hatte ihm ausdrücklich verboten, über den Nixenvorfall zu sprechen. Andererseits – war Offenheit in diesem Fall nicht die beste Strategie zur Verschleierung der Wahrheit? »Nur ’ne Seejungfer.«
Orla nickte. Ein wissendes Lächeln umspielte ihren Mund. »Das habe ich mir gleich gedacht.«
Ihm klappte der Kinnladen herunter. War das nur Theater oder glaubte sie ihm die Geschichte tatsächlich?
Sie trat einen Schritt zurück und zielte mit dem Zeigefinger auf ihn. »Ich behalte dich im Auge, Leo Leonidas.« Damit wandte sie sich von ihm ab und stapfte davon.
»Erzähl’s nicht weiter!«, rief er ihr nach.
Sie drehte sich nicht einmal mehr um.
S chon beim Erwachen am Dienstagmorgen hatte Leo ein ganz merkwürdiges Gefühl. Durch die Vorhänge drang mehr Licht als am Vortag. Er tastete über das Bettlaken. Es war trocken. Unwillkürlich zog er die Rechte unter der Bettdecke hervor, um die Handfläche zu betrachten. Das Symbol war noch da.
Leo hatte sich vor dem Einschlafen einen Kreis mit einem Dreieck und in der Mitte, anstelle des Traumauges, den Pokal des DreamTeams auf die Haut gemalt. Die
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