Das Geheimnis der versteinerten Traeume
erwiderte Leo.
Unvermittelt hakte sich jemand von hinten bei Benno unter. Er drehte sich erschrocken um.
Theresa blitzte ihn mit ihrer Zahnspange an. »Fängst du mich auf, Benno?«
»Klar doch, so oft du willst«, antwortete der. Dass die Blondine ihn um einen halben Kopf überragte, störte ihn ebenso wenig wie sein allein stehen gelassener Freund.
Leo kam sich etwas verloren vor zwischen all den Jungen und Mädchen, die sich Platz verschafften oder bereits mit ihren Fallübungen begannen. Mit einem Mal streifte sein Blick eine Schülerin, die genauso verlassen dastand wie er.
Orla Flaith.
»Nun macht schon, ihr zwei«, drängte Okumus ungeduldig.
Die beiden gingen aufeinander zu.
»Wehe, du lässt mich fallen«, sagte sie. Ihr grün-braunes Augenfeuerwerk funkelte ihn bedrohlich an.
»Das geht aber nur, wenn ich dich anfasse«, gab er zu bedenken.
»Meinst du, ich hab damit ein Problem?«
»Ich … äh … weiß nicht. Mir kam es so vor, als wärst du …« Er klappte den Mund zu, weil ihm jede Variante, den Satz zu einem grammatikalisch korrekten Ende zu bringen, zu riskant erschien.
»Kalt und abweisend wie eine Meerjungfer?«, schlug Orla vor.
»Das hast du gesagt.«
»Ich hab längst mitbekommen, was die anderen von mir behaupten. Und weißt du was? Es ist mir egal. Wenn ich eine Nymphe bin, wie der Kampffussel Kowalski behauptet, dann ist er ein plattfüßiger Feuermelder. So, und jetzt lass uns endlich anfangen. Okumus guckt, als sähe er uns schon beim Straflauf mit Benno durch den Forst keuchen.«
Die zwei fanden nur noch einen freien Platz neben dem Lehrertisch. Orla stellte sich mit dem Rücken zu Leo, etwa anderthalb Meter von ihm entfernt. »Fertig?«, rief sie über die Schulter.
»Wenn du’s bist.« Er hatte feuchte Hände.
Sie breitete die Arme aus und ließ sich mit durchgedrückten Knien nach hinten kippen.
Leo langte unter ihre Achseln, um den Sturz abzufangen. Versehentlich streifte er mit dem rechten Daumen ihre Brust und murmelte eine Entschuldigung. Mit übertriebenem Ächzen half er ihr wieder auf die Füße und hoffte, die vorgetäuschte Anstrengung lieferte ihr die passende Erklärung zu seinem glühenden Gesicht. »Also vom Gewicht her würde ich sagen, dass du
ein normaler Mensch bist«, stöhnte er, um von dem peinlichen Fehlgriff abzulenken.
Sie drehte sich zu ihm um. Ihre Miene war unergründlich. Die hypnotischen Augen schienen auf dem Grund seiner Seele nach ungebührlichen Absichten zu forschen. Er rechnete mit dem Schlimmsten, etwa dass sie ihn vor der ganzen Klasse als Busengrapscher bloßstellte. Stattdessen sagte sie nur: »Es hat sich schon mancher geirrt.«
Leo war perplex. Wie hatte sie das nun wieder gemeint? Doch wohl kaum, dass sie eine Nymphe auf Landgang war.
»Jetzt fängt Orla dich auf«, bemerkte Okumus unnötigerweise. Er war gerade von einem Rundgang durch das Klassenzimmer zurückgekehrt.
Unter seinem kritischen Blick ließ sich nun Leo nach hinten kippen. Als das Mädchen ihn auffing und sich dabei über ihn beugte, stieg ihm ein Duft in die Nase, der ihn ganz kirre machte. Merkwürdigerweise kam es ihm so vor, als schnüffele sie auch an ihm herum.
»Was ist?«, fragte sie streng. Immer noch lag er in ihren Armen.
»Was soll sein?«
»Du hast eben die Augen verdreht.«
»Hab ich nicht.«
Sie ließ ihn fallen.
»Au!«, beschwerte er sich.
»Hast wohl die Faustregel vergessen.«
»Welche…?« In diesem Moment fiel sie ihm wieder ein: Je stärker die emotionale Beteiligung desto höher der Verlust an Traumenergie. Er merkte, wie er abermals rot anlief.
»Wir sprechen uns noch«, drohte sie ihm und fügte flüsternd hinzu: »Heute, kurz nach drei bei der alten Mühle.«
Zu den Fixpunkten im Tagesplan des Internats, die nicht nur für Benno Kowalski von maßgeblicher Bedeutung waren, gehörte das Mittagessen. Ab vierzehn Uhr fünfzehn schloss sich eine je nach Wochentag unterschiedlich gestaltete Zeit an, in der man sich in verschiedenen Sozial- und Hilfsdiensten, einer Arbeitsgemeinschaft, musischen Aktivitäten oder dem Sport widmete. Von drei bis halb fünf war Vesper, was nicht bedeutete, dass man anderthalb Stunden lang aß. In dieser Nachmittagslücke erledigte man auch andere Tätigkeiten, die im eng gestaffelten Tagesplan sonst keinen Raum gefunden hätten. Leo und Orla nutzten die Zeit für ihr geheimes Treffen.
Er hatte sich von Benno den Weg zur alten Wassermühle erklären lassen. Sie lag in einem Waldgebiet,
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