Das Geheimnis der versteinerten Traeume
nachdem er die beiden hatte kämpfen sehen.
»Lasst uns diesen Ort des Todes verlassen und nach Tirza gehen«, schlug der gute Dalmud vor. »In meinem Haus könnt ihr euch ausruhen und mir alles erzählen.«
Orla deutete auf die toten Federechsen. »Wird das Dorf nicht Schwierigkeiten bekommen, wenn Refi Zuls Schergen die ganzen Kadaver hier entdecken?«
Der Alte lächelte. »Wer sagt denn, dass sie etwas finden?« Er wandte sich dem Bach zu und schloss die Augen. Nur einen Moment später stieg ein wabernder Nebel aus dem Wasser auf. Er breitete sich über den Schauplatz des Kampfes wie ein Leichentuch.
Nicht ohne ein Gefühl der Beklemmung atmete Leo die mit Traumwasser geschwängerte Luft ein. Er fürchtete, irgendetwas Schlimmes könne mit ihm geschehen, doch das Gegenteil war der Fall. Neue Traumenergie ersetzte die verbrauchte Kraft. Eine belebende Frische durchströmte seinen Körper.
So schnell der Nebel gekommen war, so rasch löste er sich wieder auf. Und mit ihm verschwanden alle Kadaver.
Auf dem Marsch zum Dorf Tirza fühlte sich Leo fast schon wie ein Mitglied der Familie. Die Jugendlichen hatten Dalmud in die Mitte genommen und lauschten gespannt seinen Worten.
In der Nacht habe ihn ein Beben geweckt, berichtete er mit ruhiger kraftvoller Stimme. Sofort sei er aus dem Haus gelaufen und habe zum Wald emporgespäht. Als er jenseits davon das Licht der Traumquelle sah, atmete er auf. Im nächsten Moment erlosch es. Da habe er geahnt, dass etwas Dramatisches passiert sein müsse, entweder ein weiterer Bruch in der Insel oder eine Beschädigung des Tores. Im ersten Morgengrauen habe er zu seinem Schwert Ariki gegriffen und sich auf den Weg zur Quelle gemacht. Am Waldrand hörte er das Zirpen der Federechsen und entdeckte Orla und ihren Freund im Bach. Der Rest sei ihnen bekannt.
Nicht unbedingt begeistert war er über die Eigenmächtigkeit seiner Ziehtochter. Als sie ihm erklärte, warum sie die Traumquelle verschlossen hatte, sagte er: »Vielleicht ist das tatsächlich der einzige Weg, Refi Zul zum Einlenken zu zwingen. Ich fürchte nur, er wird Illúsion lieber untergehen lassen, als klein beizugeben.«
»Haben Sie den Verräter gesehen?«, erkundigte sich Benno. Bis dahin hatte er geschwiegen, wohl um Orlas Argwohn ihm gegenüber nicht unnötig herauszufordern.
»Euren Mitschüler? Nein.«
»Wahrscheinlich hat er sich aus dem Staub gemacht, als wir vor den Federechsen geflohen sind«, schnaubte Leo voller Verachtung.
Orla schüttelte den Kopf. »Und wie erklärst du dir den zerrissenen Pullover?«
»Er ist irgendwo hängen geblieben.«
»Oder er will, dass wir uns um ihn sorgen«, sagte Benno.
Sie blickte missmutig auf den Pfad und erwiderte nichts. Die Vorschläge schienen ihr nicht zu gefallen.
Nach ungefähr drei Kilometern erreichten sie Tirza. Ein natürlicher Damm aus Dünen schützte es vor dem Meer. Das Dorf war nicht gerade das, was Leo unter diesem Begriff verstand. Es gab keine Straßen und Wege im eigentlichen Sinne, sondern nur mehr oder weniger große, teilweise grasbewachsene Freiflächen zwischen schilfbedeckten Rundhütten. Kinder, struppige Ziegen und Hühner benutzten diese als Tummelplatz. Die aus luftgetrockneten Lehmziegeln errichteten Behausungen wirkten ebenso ärmlich wie die Leute. Deren mittelalterliche Kleidung war oft verschmutzt, fadenscheinig und ebenso schlicht wie die von Dalmud. Die Menschen bestaunten Orla. Einige deuteten mit den Fingern auf sie und tuschelten.
»Sie erkennen in dir deinen Vater«, erklärte der Alte.
Benno zeigte auf eine aus Rundhölzern erbaute Konstruktion mitten im Dorf. »Bei uns zu Hause gibt es solche Hochstände auf Feld und Flur, als Spähposten für Jäger. Wozu ist der da?«
»Für die Traumwächter«, antwortete der gute Dalmud.
»Traumwächter?«, echote Leo.
»Das habe ich gesagt, ja.«
Orla verdrehte die Augen. »Leo wiederholt ständig alles, was
er aufschnappt. Ich glaube, du solltest das Wort erklären. Er und Benno sind noch neu hier.«
Der Alte breitete die Arme aus, als wolle er damit sämtliche Häuser des Dorfes umfangen. »Jede Siedlung in Illúsion hat einen oder mehrere dieser Hüter. Sie wachen über die Bevölkerung, wenn sie schläft. In diesen Stunden ist die Wahrscheinlichkeit ziemlich hoch, dass plötzliche neue Kreaturen auftauchen.«
»Ihr meint Traumgeborene?« Leo hatte inzwischen mitbekommen, dass Orlas Ziehvater diese etwas altertümliche Form der Anrede schätzte.
»Ganz genau.
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