Das Geheimnis der versteinerten Traeume
Täglich ereignen sich irgendwo Erdrutsche, ganze Inseln versinken im Chaos. Dadurch sind auch viele der kleineren Quellen verloren gegangen oder verschüttet worden.«
»Siehst du, und deshalb muss ich Refi Zul irgendwie umstimmen. Er darf Illúsion keinen Tag länger vom Rest der Welt abschotten. Es soll endlich wieder ein Teil der menschlichen
Völkerfamilie werden. Wo finde ich das letzte der Großen Tore, Onkel Dalmud?«
»Du kannst ganz schön hartnäckig sein, weißt du das?«
Sie lächelte zuckersüß. »Das ist eine Tugend, die ich von dir gelernt habe.«
Der Alte seufzte abermals. »Erinnerst du dich noch, was ich dir vor Jahren über Rapa Nui – die Insel des großen Steins – erzählt habe?«
Orla nickte, wobei ihre Miene zu erstarren schien. »Wie könnte ich je vergessen, wo Papa und Mama ermordet wurden! Sie hatten sich dort mit Refi Zul im Haus des Illúsischen Rates treffen wollen und sind nicht mehr zurückgekehrt. Du sagtest einmal, das Bauwerk bestehe aus Kristall und sei für normale Illúsier so unsichtbar wie Illúsion für den Rest der Welt. Ist das tatsächlich wahr?«
»Und ob! Könnt ihr euch nicht denken, warum der König es mit einem Bann vor seinem eigenen Volk versteckt?«
»Damit niemand die Sitzungen des Rates stört?«, riet Leo.
»Nicht schlecht«, pflichtete ihm Dalmud bei. »Das ist Zuls Lieblingsvorwand. Außerdem behauptet er gerne, das Haus sei eine Zufluchtsstätte für Zeiten der Not. Es gibt aber noch einen anderen Grund, über den er nie offen spricht. Auf Rapa Nui sind sich Illúsion und die übrige Welt ganz nahe. Ich nehme an, die Insel existiert hier wie dort, nur jeweils mit einem anderen Gesicht.«
»Wie kommt Ihr darauf?«
»Ich habe das andere Rapa Nui einmal gesehen. Es war ein stürmischer Tag. Plötzlich verschwand vor meinen Augen ein ganzer Wald, so als sei er nur ein Bild auf einem vom Wind gebauschten Schleier. Ich sah eine karge Graslandschaft. Im nächsten Moment waren die Bäume wieder da.«
»Habt Ihr eine Erklärung dafür?«
Der Alte nickte. »Rapa Nui ist die Insel der schlafenden Wächter, der Ort, an dem Refi Zul vor Tausenden von Jahren geboren wurde, wo er am verletzlichsten und zugleich am mächtigsten ist. Genau an der Stelle, wo ihn einst die Sonne aus dem jahrhundertelangen Schlaf geweckt hatte, befindet sich das erste aller Traumtore. Die Urquelle. Sie entspringt im Innern des kristallenen Ratshauses. Der Sage nach hat Zuls Mutter ihren Sohn unmittelbar nach der Geburt im Wasser der heiligen Quelle gewaschen. Diesem Bad soll er seine Macht verdanken. Das könnte erklären, warum er sie für sich ganz allein beansprucht. Angeblich führt das Tor direkt zu einer Drusenkammer unter dem Haus seines Ersten Statthalters.«
»Bald nicht mehr«, sagte Orla grimmig.
Leo krauste die Stirn. »Wahrscheinlich ist das jetzt eine dumme Frage: Wie kommen wir zu dieser Insel? Gibt es in Illúsion so etwas wie einen geregelten Schiffsverkehr?«
»Nein«, antwortete der Alte. »Rapa Nui ist unbewohnt. Ich kann euch mein Boot geben. Es liegt am Strand.«
»Ist es immer noch das weiß-blaue ohne Segel?«, erkundigte sich Orla mit einem aufgeregten Funkeln in den Augen.
Ihr Ziehvater nickte.
»Heißt das, wir müssen rudern?«, stöhnte Benno.
»Das lass nur meine Sorge sein«, sagte Orla euphorisch.
»Überleg dir genau, was du tust, Kleines«, ermahnte sie Dalmud. »Sobald das letzte Große Tor zerstört ist, kann uns nicht einmal Inférnia von Refi Zul befreien.«
Das Strahlen wich aus ihrem Gesicht. »Bist du ganz sicher, dass es sonst keine Möglichkeit gibt, Illúsion wieder sichtbar zu machen?«
»Keine, die ich wüsste.«
»Heißt das, wir sollen jemand anderen fragen?«
Er lachte freudlos. »Ja, die neunundsechzig schlafenden Wächter auf der Insel des großen Steins. Brich den Bann, der sie gefangen hält. Sie kennen Refi Zul am besten und wissen vielleicht, wie ihm beizukommen ist.«
Sie stöhnte. »Du weißt so gut wie ich, dass die Ratsherren nur während einer Doppelfinsternis befreit werden können. Als Nächstes verlangst du noch von mir, einen Stern vom Himmel zu holen. Kann ich den Mörder meiner Eltern nicht einfach seiner gerechten Strafe zuführen?«
»Du meinst, ihn töten? Hörst du mir überhaupt zu, Orla? Damit könntest du den Bann für die Ewigkeit festschreiben.«
»Gibt es denn gar keinen anderen, keinen leichteren Weg?«
»Nur einen, der noch irrwitziger ist. Du müsstest die ganze Menschheit dazu
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