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Das Geheimnis der versteinerten Traeume

Das Geheimnis der versteinerten Traeume

Titel: Das Geheimnis der versteinerten Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Glücklicherweise sind die meisten Schöpfungen harmlos, manchmal sogar äußerst skurril oder komisch. Im Traum ist eben jeder ein Narr.«
    »Ich dachte, nur Schlafverwandler könnten solche Wesen erschaffen.«
    »Das ist vielleicht auch nicht das richtige Wort. Hier haben wir es eher mit einem unbewussten Phänomen zu tun. Es ist mit dem Schöpfen aus einer sprudelnden Quelle vergleichbar. Wie mir ein treuer Gefährte aus deiner Welt einmal erklärte, bezeichnet man in deiner Sprache ein Gefäß zum Schöpfen als ›Schöpfer‹. Du weißt, was eine Zauberlaterne ist?«
    »Äh …« Der überraschende Gedankensprung brachte Leos Verstand aus dem Tritt.
    »Er meint eine Laterna magica «, sagte Benno.
    »Ach, diese primitiven Diaprojektoren, mit denen man Bilder auf eine Leinwand werfen kann?«
    »Ich glaube, wir meinen das Gleiche, antwortete Dalmud. »Nun, der Ringkontinent Illúsion ist wie eine große Linse. Sie sammelt ungeträumte Bilder aus dem Unterbewusstsein von Menschen aus aller Welt. Die meisten Traumbilder treten hier
in besonderen Quellen zutage. Einige – wir nennen sie ›Reflexionen‹ – sind wie die Lichtbilder einer Zauberlaterne, nur dass sie in unserem Geist erstrahlen, wenn wir schlafen. Und der Widerschein davon nimmt Gestalt an.«
    »Ihr meint, der Schläfer hält nur seine Schöpfkelle in den Strom der Traumenergie und was er daraus hervorbringt, kommt zur Realisierung?« Leo benutzte unwillkürlich die von Doktor Dabelstein und Osmund Okumus verwendeten Begriffe.
    »Ja. Leider schwappen aus dem Unterbewusstsein der Menschen in letzter Zeit immer öfter grauenvolle Wesen zu uns herüber. Manchmal habe ich das Gefühl in Inférnia zu sein. Da gehören die Monstren eigentlich hin. Ich nehme an, diese Verirrung hängt damit zusammen, dass derlei Schrecklichkeiten bei euch nicht mehr als Albtraum empfunden werden.«
    Leo zuckte die Achseln. »Das moderne Wort dafür ist Computerspiel.«
    Orla schnaubte. »Wenn die Gamer wüssten, was Gewaltfantasien bei uns anrichten, würden sie vielleicht anders damit umgehen.«
    Dalmud nickte. »Die Traumwächter halten uns die Bestien vom Leib. Sie machen sie unschädlich. Wenigstens die meisten. Einige entkommen leider …«
    »… und dienen Refi Zul als Wächter oder Kettenhunde«, fiel Orla ihm ins Wort.
    Er tadelte sie dafür mit einem strengen Blick.
    Kurz darauf bemerkte Leo, wie sein Freund erschrocken zu einer erhöhten Stelle im Dorfzentrum blickte. Von dem Hügel ragte ein Standbild auf, in dessen Schatten eine Handvoll Kinder im Alter von etwa vier bis sieben Jahren spielte. Das steinerne Bildnis bestand fast nur aus einem kantigen Kopf. »Kennst du die Visage?«

    »Weiß nicht«, antwortete Benno. Er war kalkweiß im Gesicht.
    »Ich glaube, irgendwo habe ich solche Figuren schon mal gesehen.«
    »Geht mir genauso.«
    »Ist das Refi Zul?«, wandte sich Leo an Orla.
    Sie nickte. Ihre Augen blieben auf Benno gerichtet und waren schmal wie Schießscharten.
    Leo deutete auf die Jungen und Mädchen. »Man könnte meinen, die üben Zaubertricks ein. Gerade hat der kleine Hänfling da eine Münze verschwinden lassen.«
    »Das ist tatsächlich so. Illúsier sind von Geburt an Former. Das liegt an der Energie der ungeträumten Träume, die hier alles durchströmt.«
    »Heißt das, tanzende Tannennadeln und Wassertropfen sind in Illúsion normal?«
    »Es waren Kiefernnadeln. Und die Antwort lautet: nein. Du kannst es mit dem Singen vergleichen: Mehr schlecht als recht bringt jeder eine einfache Melodie heraus, aber nur wenige schmettern Arien.«
    »Und fast nie klingt es schön. Wo ist dann der Unterschied zu den Schlafverwandlern?«
    »Sie sind die Komponisten, um bei dem Beispiel zu bleiben. Schlafverwandler bringen etwas Neues hervor, Former verändern nur Bestehendes. Onkel Dalmud könnte nie eine Seejungfer erschaffen, obwohl er ein Meister seiner Kunst ist – vielleicht sogar der Größte von allen.«
    »Du bist auch nicht ganz unbegabt, Kleines«, sagte der Alte.
    Sie zuckte mit den Schultern. »Die meisten in Illúsion sind jedenfalls kaum in der Lage, ein Ei hochzuheben und wieder abzusetzen, ohne es zu zerbrechen. Immerhin sind derlei Fähigkeiten hier so selbstverständlich, dass die Illúsier den perfekten
Anschein des Formens als Ausdruck höchster Kunstfertigkeit betrachten.«
    »Du meinst Tricks?«
    Orla nickte. »Lässt einer etwas so aussehen, als werde es durch Formung verändert, obwohl es nur ein Kabinettstück – eine

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