Das Geheimnis der versteinerten Traeume
brachten sie das Meer auch gemeinsam in Wallung.
»Macht schneller, sonst sinken wir!«, trieb das Mädchen die Jungen unermüdlich an.
»Mir fallen gleich die Arme ab«, jammerte Leo. Er saß Orla gegenüber, konnte sie aber nur sehen, wenn es wieder einmal blitzte.
Sie lachte rau. »Dafür ist später immer noch Zeit.«
»Kannst du mit deiner Formergabe nicht irgendwas tun, um das Unwetter zu beruhigen?«
»Das fragst du mich? Gegen solche Naturgewalten bin ich machtlos. Zeig du doch mal, was in dir steckt.«
»Ich wüsste nicht wie.«
»Du zweifelst immer noch an dir. Dann schöpf eben weiter, sonst…« Der Rest von Orlas enttäuschter Erwiderung wurde von einer riesigen Welle erstickt, die genau über dem Boot zusammenbrach.
Leo war mit einem Mal unter Wasser und wirbelte herum. In seinen Ohren gluckerte und brodelte es. Er verlor die Orientierung, tastete nach dem Kanu, griff aber nur ins Leere. Um Benno machte er sich keine Sorgen, der war sein eigener Rettungsring, aber wo war Orla? Vielleicht sank sie bewusstlos in die Tiefe. Er musste ihr helfen, musste sie retten. Die Angst um das Mädchen verdrängte alles andere aus seinem Kopf.
Er schwamm in eine Richtung, die er für oben hielt. Mit kräftigen Stößen kämpfte er gegen die tödliche Umklammerung des Chaos an. Vergeblich. Auch seine Freundin fand er nicht. Bald fingen seine Lungen an zu brennen. Der Atemreflex wurde immer stärker. Seine Bauchdecke begann zu zucken.
Plötzlich leuchtete über ihm der Himmel auf.
Aus schierer Verzweiflung hätte er fast den Mund aufgerissen. Der Blitz hatte ihm gezeigt, dass er tauchte, anstatt aufzusteigen. Die Oberfläche war zu weit entfernt, um sie noch zu erreichen. Atme das Wasser tief ein, sagte er sich. Dann ist es schnell vorbei …
Unvermittelt spürte er einen dumpfen Schlag am Bauch. Etwas hatte sich unter ihn gesetzt und drückte ihn nach oben. Seine Hand tastete über glatte Haut hinweg. Es musste einer der beiden Spürwale sein. Ein Schwall von Luftblasen traf ihn ins Gesicht. War das Zufall oder eine Einladung? In seiner Not beugte er sich vor und presste seine Lippen auf das Atemloch
des Tieres. Die Luft schmeckte ekelhaft, doch das war ihm egal. Gierig füllte er seine Lungen.
Die so aufgefrischten Reserven reichten für den Aufstieg. Der Wal stieß mit Leo durch die Wasseroberfläche hindurch. Sogleich vernahm er eine Stimme. Es war Orla. Sie rief seinen Namen und klang verzweifelt.
»Ich bin hier!«, schrie er und winkte aufgeregt. Regen peitschte ihm ins Gesicht. Vor Freude und Erleichterung achtete er nicht auf sein Gleichgewicht. Er glitt vom Rücken des Wals und schluckte Wasser. Das Tier hob ihn abermals hoch und er wiederholte hustend seinen Ruf. Der Spürwal ließ einen keckernden Laut vernehmen und trug ihn behutsam durch die aufgewühlte See. Bis zu der Illúsierin war es nur ein kurzes Stück.
»Gott sei Dank, Batoi hat dich gefunden!«, stieß sie erleichtert hervor. »Mich hat Atnam gerettet.«
»Ich bin fast abgesoffen«, keuchte Leo. Vergeblich versuchte er, Orlas Umrisse im Dunkel auszumachen.
»Das wäre aber schade.«
Er blinzelte. Wie meinte sie das? »Wo ist Benno?«
»Keine Ahnung. Hab weder was von ihm gesehen noch gehört. Ist wohl abgetaucht.«
»Unmöglich. Er ist unsinkbar.«
»War auch nicht wörtlich gemeint.«
»Was heißt das nun wieder? Wir müssen ihn sofort suchen.«
»Müssen wir das?«
»Jetzt mach aber mal halblang, Orla«, schnappte Leo. »Ich weiß, dass du Benno nicht leiden kannst. Trotzdem dürfen wir ihn nicht aufgeben.«
»Fragt sich, wer hier wen im Stich lässt.«
»Was soll das heißen?«
»Hörst du etwa seine Stimme? Er hat von Anfang an nicht zu
uns ins Boot steigen wollen. Ich schätze, er will sich gar nicht von uns finden lassen.«
Erneut blitzte es und endlich sah Leo seine Freundin. Sie saß mit grimmiger Miene vor der großen Finne Atnams. Die schwertartige Rückenflosse ragte wohl mehr als drei Meter hinter ihr auf. Im Hintergrund war eine dunkle Masse zu sehen.
»Ich glaube, ich habe Land gesehen«, stieß er aufgeregt hervor.
»Diesmal glaubst du richtig«, erwiderte sie. »Wir haben Rapa Nui gefunden.«
Es hatte aufgehört zu regnen. Leo kniete breitbeinig auf dem Spürwal, den Rücken an die lange Finne gelehnt, und spähte zur Insel hinüber. Er sah nichts als steile, schroffe Felswände, wenn das Wetterleuchten sie der Dunkelheit entriss. Sie machte ihrem Namen – »großer Stein« – alle Ehre. Rapa
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