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Das Geheimnis der versteinerten Traeume

Das Geheimnis der versteinerten Traeume

Titel: Das Geheimnis der versteinerten Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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die Luft abkühlte. Dann verwandelten sich die Kopfbedeckungen wieder in warme Pullover. Das Schlafen in dem schmalen Bootsleib klappte trotz aller Beengtheit recht gut. Benno döste sogar tagsüber oft stundenlang vor sich hin.
    In diesen Phasen des Unbeobachtetseins genoss Leo die Kanufahrt sogar. Immerhin teilte er sein Los mit dem für ihn schönsten Mädchen auf Erden. Nicht dass es zwischen ihnen zum Austausch irgendwelcher Zärtlichkeiten gekommen wäre, die dem guten Dalmud und seiner Frau hätten Sorgen bereiten müssen. Leo war viel zu schüchtern, die erotischen Fantasien eines Benno Kowalski auch nur in Erwägung zu ziehen. Zudem respektierte er Orla zu sehr, als dass er ihre Freundschaft durch einen plumpen Annäherungsversuch aufs Spiel setzen wollte.
    Im Gedankenaustausch mit ihr fand er etwas, das ihm seine permanent überbeschäftigten Eltern schon lange nicht mehr gegeben hatten. Wie bei der Übernachtung auf der Waldlichtung ging ihm und Orla auch auf der Seereise der Gesprächsstoff nicht aus. So lernte er mehr über die Welt der ungeträumten Träume, als er je aus den Legenden über die sagenhafte Terra australis incognita  – das »unbekannte Südland« – hätte erfahren können.
    Besonders zu denken gab ihm der fortschreitende Verfall von Illúsion, den Orla und ihr Ziehvater ja schon beklagt hatten. Auf der Reise konnten sich Leo und Benno nun selbst davon überzeugen. Bereits am Tag ihres Aufbruchs zogen sie an einem Eiland vorbei, das plötzlich wie ein aufgeweichter Kuchen im Meer versank. Die beiden Spürwale entrissen das Auslegerboot nur mit Mühe dem tödlichen Sog der sterbenden Insel.
    Am Montagnachmittag stand Leo im Bug des Kanus und beobachtete sprachlos, wie sich eine Landmasse vor seinen Augen
im Ozean materialisierte und gleich darauf in Millionen Stücke zerfiel.
    »Wenn so etwas mit dem Ringkontinent geschähe«, sagte Orla mit finsterer Miene, »wäre es das Ende von Illúsion.«
    »Verstehe ich nicht«, murmelte er benommen. Sein Blick lag nach wie vor auf der Stelle, wo sich die Insel aufgelöst hatte. Ein Windstoß wirbelte seine Haare durcheinander.
    »Das Salzwasser aus dem Pazifik würde sich mit dem Chaos vermischen und die darin gespeicherte Traumenergie rasend schnell auflösen. Niemand weiß genau, was dann geschähe. Im günstigsten Fall versänke das Reich der ungeträumten Träume im Meer …«
    »Und im schlimmsten?«
    »Bumm!«, machte Orla und beschrieb mit den Händen eine große Explosion.
    Leo sah sie entsetzt an. »Illúsion würde hochgehen?«
    »Zerplatzen wie eine Seifenblase.« Sie zuckte mit den Schultern. »Die Theorie ist umstritten. Wenn sie stimmt, wäre es wohl das Ende allen menschlichen Lebens auf diesem Planeten.«
    Er sank kraftlos in sich zusammen und starrte mit leerem Blick auf das brodelnde Wasser, das noch von der zerstobenen Insel kündete.
    »Nehmen wir uns ein Beispiel an Benno«, wechselte Orla das Thema. »Lass uns ein Nickerchen machen.«
    Leo sah sie verständnislos an. »Du sagst mir, dass die Welt untergeht und schickst mich dann schlafen?«
    »Der Wind frischt auf.« Sie deutete zum südlichen Horizont, wo sich die Wolken in den Himmel türmten. »Ich fürchte, wir bekommen Sturm. Könnte ungemütlich werden.«

     
    Der Regen peitschte ihnen fast waagerecht ins Gesicht. Es blitzte und donnerte als überhole die Wirklichkeit gerade die düstersten Prognosen vom Weltuntergang. Immer wieder schwappten Wellen ins Boot. Leo, Benno und Orla hatten alle Hände voll zu tun, das Kanu vor dem Absaufen zu bewahren. Mit halbierten Flaschenkürbisschalen schöpften sie ununterbrochen Wasser heraus.
    Mittlerweile musste es nach Mitternacht sein. Es war zu dunkel, um die Zeit von den Armbanduhren abzulesen. Zum Glück hatten sie zuvor tatsächlich noch etwas Ruhe gefunden, ehe der Seegang zu rau geworden war. Atnam und Batoi ließen sich davon nicht beeindrucken. Mit unvermindertem Tempo zogen sie das Auslegerkanu weiter durchs Chaos. Immerhin waren die Wale klug genug, die Wellen im rechten Winkel anzusteuern. So beugten sie der Gefahr eines Kenterns vor, die bei diesem Bootstyp ohnehin nicht so groß war.
    »Ich wette, Mark Laurel steckt dahinter«, übertönte Bennos Stimme den Sturm.
    Unwillkürlich musste Leo an die Bemerkung von Orlas Ziehvater denken: Er scheint ein Wassermann zu sein, ein Schlafverwandler, der sich darauf versteht, Wasser umzugestalten. Anscheinend war Mark ein begabter Schüler von Refi Zul. Womöglich

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