Das Geheimnis der versteinerten Traeume
schmaler wurde. Unvermittelt wankte er.
»Alles in Ordnung?«, fragte Orla. Sie griff besorgt nach seiner Hand.
»Ich glaube schon. Muss mich nur daran gewöhnen, einzuschlafen, ohne richtig wegzutreten.«
»Wenn du die Borderland-Phase hinter dir hast, geht’s dir besser.«
Er lachte. »Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal stehenden Fußes einpennen könnte, während das schönste Mädchen der Welt mit mir Händchen hält.« Leo riss die Augen auf. »Habe ich das eben wirklich gesagt?«
Sie kicherte. »Dein Inneres kehrt sich nach außen. Ist ganz normal. Der gute Dalmud meinte immer: ›Auf dem Weg vom Wachen zum Schlafen vermag niemand zu lügen, er kann sich nur selbst betrügen.‹ Spürst du schon das Traumtor oder das Königszeichen?«
»Nein. Warum sollte ich das Vogel-Augen-Symbol spüren?«
»Weil du vermutlich ein ebenso mächtiger Traumwandler wie Refi Zul bist. Ihr zwei seid euch ähnlicher, als du ahnst. Deshalb verfolgt er dich ja.«
»Jetzt mach aber mal halblang!«
Sie lächelte wissend. »Hast du dich nicht gefragt, wieso dein Riesengründrache Gertrude und Gigantolos von der gleichen Art sind? Sogar die roten Haare haben übereingestimmt. Erzähl mir nicht, das wäre Zufall.«
Natürlich hatte er das bemerkt. »Und ich dachte, Agatha hätte mich inspiriert.«
»Das eine schließt das andere ja nicht aus. Du hast dir unbewusst genau das passende Modell für deine Traumgeborene ausgesucht.«
»Und was hat das alles mit dem Symbol zu tun?«
»Du brauchst es nur anzusehen, um die Antwort zu erkennen:
Der Vogel fliegt, wohin er will, und nimmt das Auge mit. Jedes dieser Zeichen ist wie ein Schlüsselloch, durch das Refi Zul hindurchsehen kann. Sobald du das verinnerlicht hast, wird dir das Gleiche möglich sein.«
Inzwischen hatte Leo das Grenzland zwischen Wachen und Schlafen durchschritten. Im luziden Traum erschien ihm die Wirklichkeit wie in Watte verpackt und zugleich nahm er sie intensiver denn je wahr. Sein Bewusstsein war so geschärft, als hätte er die erstaunlichsten Sinne aus dem Tierreich in sich versammelt. Sogar sein Verstand arbeitete mit unglaublicher Präzision. Daher ging ihm plötzlich etwas auf, das er bisher übersehen hatte.
»Refi Zul konnte uns beobachten, seit wir in Illúsion sind.«
Orla wurde schlagartig blass. »Hast du etwa ein Auge in deine Hand gemalt, obwohl ich dir …«
»Nein«, unterbrach er sie. »Aber Benno trägt eine Kette mit dem Königszeichen um den Hals.«
»Ich wusste es!«, zischte sie. »Der Kerl hat uns verraten.«
»Das kannst du nicht beweisen«, verteidigte Leo seinen Freund wider besseres Wissen. Der Rotschopf hatte sich merkwürdig verhalten, als ihm der Anhänger aus dem Ausschnitt gerutscht war. »Robert Zaki sagte, die Dinger seien Werbegeschenke. Es gibt auch Anstecknadeln mit dem Logo. Er druckt das Vogel-Augen-Zeichen neuerdings sogar auf die DreamCaps.«
»Das heißt, er hat bald Millionen von Augen, um die Menschenwelt auszuspionieren. Und in die Köpfe der Träumer zu sehen.« Orla machte eine fahrige Geste zu den umstehenden Bäumen hin. »Die Pastille müsste inzwischen wirken. Konzentriere dich, Leo. Das Vogel-Auge kann nicht weit sein. Wir können nur hoffen, dass Refi Zul gerade mit etwas anderem beschäftigt ist.
Wenn er uns sucht, wird er uns hier spielend leicht finden. Unsere einzige Chance ist, ihm zuvorzukommen.«
Leo wandte sich seiner Umgebung zu. Langsam drehte er sich im Kreis und dachte dabei intensiv an das Königszeichen. Es schien, als sähe er den Wald durch schlieriges Glas. Komm schon! Zeig dich mir! Wo bist du?
»Da!« Er hatte etwas entdeckt. Erregt deutete er auf die Stelle, an der ihm das Grün des Dschungels üppiger vorkam. Ohne eine Antwort des Mädchens abzuwarten, lief er zu dem leuchtenden Strauch. Er fühlte sich regelrecht davon angezogen, so wie neulich vom Drusentor unter dem Salemer Schloss. Wie einen Vorhang schob er die Zweige auseinander.
Vor ihm lag ein von Buschwerk und Bäumen überwucherter Weg. Eine dicke Schicht Laub bedeckte den Boden.
»Da geht’s lang«, sagte Leo und vergewisserte sich, dass Orla ihm auf dem Pfad folgte, der ihn zum Königssymbol führen würde – daran gab es für ihn keine Zweifel. Die Augen der Illúsierin suchten unentwegt das Blätterwerk zu beiden Seiten ab. Sie war offenkundig fest entschlossen, sich und den Freund mit blanker Klinge zu verteidigen.
Der Gang durch das Dickicht war länger als vermutet. Es schien, als rückten der
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