Das Geheimnis der versteinerten Traeume
dachte Leo. Er musste sie davor bewahren, musste endlich das Selbstvertrauen aufbringen, das Orla immer von ihm eingefordert hatte …
Unvermittelt sah er etwas am Rande seines Gesichtsfeldes aufblitzen und warf den Kopf herum. Ein ausgesprochen hässliches Hyänenschwein mit verbeultem Harnisch und räudigem Fell hatte sich von der Seite an ihn herangepirscht. Beim ersten Blickkontakt sprang es los, um ihm mit einem breiten Rundschwert den Garaus zu machen. Instinktiv duckte er sich.
Er bildete sich ein zu spüren, wie die Klinge der Kreatur einige Haare an seinem Hinterkopf abrasierte und schrie vor Schreck, Angst und Zorn. Wütend drehte er sich zu dem Angreifer um und stieß blind mit dem Igelrattenstachel zu. Der eisige Dolch drang in etwas Festes ein. Warmes Blut rann über Leos Faust. Die Bestie kreischte vor Schmerz.
Erschrocken riss er die Waffe aus dem Körper des Feindes und taumelte zwei, drei Schritte von ihm weg. Der Stachel hatte das Wesen im Hals getroffen. Genau in die Mitte einer rasierten Stelle mit einer Tätowierung, dem Vogel-Augen-Symbol.
Röchelnd brach die Kreatur zusammen.
»Selber schuld, du räudiger Handfeger!«, schrie Leo. Sein wild klopfendes Herz drohte ihm die Brust zu sprengen. Ein Geschöpf mit Sinn und Verstand zu töten, ging ihm nicht so leicht von der Hand wie …
Orla! , blitzte ihr Name durch seinen Kopf. Besorgt sah er sich zu ihr um.
Fünf oder sechs Wächter versuchten sie gerade einzukreisen. Ihn schauderte. Mit seinem eisigen Dolch würde er da nicht viel ausrichten. Dazu bedurfte es einer weit mächtigeren Waffe. Sie war greifbar nahe. Gewaltig wie eine Springflut schoss sie aus dem unsichtbaren Tor.
Leo spürte immer heftiger, wie ihn die Traumenergie mit unglaublicher Kraft durchströmte. Er brauchte sie nur einzufangen und nach seinem Willen zu formen. Unbewusst spreizte er die Arme vom Körper ab. Mit einer Drehung um die eigene Achse verschaffte er sich einen Überblick.
Orla näherte sich gerade einem Krieger, der in seinen Klauen gleich zwei Streitäxte schwang. Sie schien keine Furcht zu kennen. Zu Leos Entsetzen entdeckte er links von ihr ein Hyänenschwein, das mit einem Pfeil auf sie zielte. Dort begann er mit der Verwandlung.
Der Baum hinter dem Schützen bewegte sich plötzlich. Einem Menschen gleich beugte er sich zu dem Wächter herab und schlug mit einer Liane wie mit einer Peitsche nach ihm. Die Schlingpflanze wickelte sich um seinen Hals, er wurde zurückgerissen und flog in hohem Bogen ins Dickicht.
Inzwischen hatte Orla den beidhändig kämpfenden Krieger erreicht. Er attackierte sie mit wütendem Knurren. Sie tanzte leichtfüßig wie eine Elfe um die fliegenden Äxte herum und suchte nach einer Lücke in seiner Deckung.
Leo lenkte unterdessen immer mehr Traumenergie in den Wald. Was ihm zuvor nur wie eine Vision erschienen war – Baumriesen, die wohlwollend auf ihn herabblickten –, erwachte nun zum Leben. Der ganze Dom geriet in Bewegung. Kolossale Baumkrieger griffen mit Klauen nach den Wächtern, hieben mit
Astkeulen auf sie ein und schlugen mit Lianenpeitschen nach ihnen. Der Feuerwald war erfüllt von ihren Schreien.
Orla streckte gerade den nächsten Gegner nieder und wollte sich sofort auf zwei weitere stürzen.
»Komm zu mir!«, rief Leo.
Sie verharrte, drehte sich nach ihm um, zögerte …
»Ich bringe uns weg von hier.« Er deutete mit seinem Eisstachel himmelwärts. »Aber du musst bei mir sein, auf dem Vogel-Auge.« Leo lenkte seinen Willen in den Baum, der im Rücken ihrer beiden Kontrahenten stand. Der Riese packte die Hyänenschweine mit seinen hölzernen Klauen, schlug sie einmal fest aneinander und schleuderte sie wie Stofftiere über seine Schulter fort. Sie verschwanden hinter dem Kraterrand.
Ihrer Gegner beraubt, gab Orla endlich nach. Während die Wächter weiter ums nackte Überleben kämpften, lief sie zu Leo.
Er streckte ihr die Rechte entgegen. Sobald sich ihre Hände berührten, lenkte er seine Kraft in das Auge. Diesmal gelang ihm der Wechsel schneller. Der funkelnde Dom des Waldes verwandelte sich in einen Wirbelsturm aus Licht. Alles um sie herum löste sich auf wie ein Wolkenbild in einem Tornado. Über ihren Köpfen erschien die kristallene Riesenkugel, die Leo zuvor schon kurz gesehen hatte. Dann prasselte ein Wasserfall auf sie herab.
Im Nu waren die beiden klitschnass.
Prustend liefen sie aus dem Sturzbach heraus, der aus dem Haus des Rates rauschte.
»Alles in Ordnung?«, hustete
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