Das Geheimnis der Wellen
wenn Sie etwas brauchen.«
»Danke.« Er entfernte sich rasch, damit sie die Tür schließen konnte, bevor allzu viel Wärme entwich.
Doch sie blieb in der offenen Tür stehen und sah ihm nach.
Sie, über die man oft sagte, sie habe ein zu weiches Herz, empfand Mitleid.
Wie lang es wohl her war, seit ihn jemand außerhalb seiner Familie aus der Kälte geholt hatte?
Sie schloss die Tür, kehrte in den Wintergarten zurück, nickte ihrer Freundin Maureen zu und übernahm erneut den Unterricht.
Als die letzte Entspannungsübung endete, sah sie, wie der Schnee, den Eli angekündigt hatte, dicht und weich herabfiel. In ihrem gemütlichen Wintergarten fühlte man sich dadurch wie in einer überdimensionalen Schneekugel.
Sie fand das perfekt.
»Vergesst nicht, genug zu trinken.« Sie setzte ihre Wasserflasche an den Mund, und die Frauen rollten ihre Matten auf. »Übrigens gibt es noch freie Plätze in unserem East-Meets-West-Kurs um Viertel nach neun im Gemeindesaal der Unitarier.«
»Ich liebe diesen Kurs.« Heather Lockaby schüttelte ihre Kurzhaarfrisur. »Winnie, ich kann dich mitnehmen, wenn du Lust hast.«
»Ruf mich vorher an. Ich würde es gern mal ausprobieren.«
»Aber jetzt möchte ich wissen, wer das vorhin war«, sagte Heather und rieb sich die Hände. »Ich habe da nämlich so eine Vermutung.«
»Wie bitte?« Abra antwortete mit einer Gegenfrage.
»Der Mann, der während des Unterrichts reingekommen ist, war das Eli Landon?«
Der Name sorgte sofort für ein Raunen. Abra spürte, wie sich die positiven Auswirkungen ihrer Yogastunde verflüchtigten, so sehr verspannten sich ihre Schultern. »Ja, das war Eli.«
»Hab ich’s dir doch gesagt.« Heather versetzte Winnie einen Stoß zwischen die Rippen. »Ich habe gehört, dass er in Bluff House eingezogen ist. Putzt du wirklich weiter, obwohl er dort wohnt?«
»Es gibt nicht viel zu putzen.«
»Aber, Abra, bist du nicht nervös? Ich meine, er ist des Mordes angeklagt. Er soll seine eigene Frau ermordet haben.«
»Er wurde freigesprochen, Heather, schon vergessen?«
»Aber nur aus Mangel an Beweisen. Das heißt noch lang nicht, dass er unschuldig ist. Du solltest nicht allein mit ihm in diesem Haus sein.«
»Die Medien lieben Skandalgeschichten. Erst recht, wenn es dabei um Sex, Geld und bedeutende Familien aus Neuengland geht. Das bedeutet nicht, dass er schuldig ist.« Maureen zog ihre feuerroten Brauen hoch. »Du weißt doch, Heather: Im Zweifel für den Angeklagten.«
»Ich weiß nur, dass er seinen Job verloren hat – und er war Strafverteidiger. Ein bisschen seltsam ist das schon, dass man ihn feuert, wenn er unschuldig ist. Außerdem galt er als Hauptverdächtiger. Zeugen haben gehört, wie er seiner Frau am Tag des Mordes gedroht hat. Bei einer Scheidung hätte ihr viel Geld zugestanden. Außerdem hatte er nichts in dem Haus zu suchen, oder?«
»Es war auch sein Haus«, rief Abra ihr wieder ins Gedächtnis.
»Aber er war ausgezogen. Ich meine ja nur: Wo Rauch ist, da ist auch …«
»Wo Rauch ist, kann auch ein anderer Feuer gelegt haben.«
»Du bist so vertrauensselig.« Heather legte den Arm um Abra, eine ebenso gut gemeinte wie bevormundende Geste. »Ich mache mir Sorgen um dich.«
»Ich glaube, Abra hat eine gute Menschenkenntnis und kann auf sich selbst aufpassen.«
Greta Parrish, mit zweiundsiebzig die Älteste im Kurs, zog ihren warmen Wollmantel an. »Und Hester Landon hätte Eli, der übrigens immer ein sehr wohlerzogener junger Mann gewesen ist, Bluff House nicht überlassen, wenn sie auch nur den geringsten Zweifel an seiner Unschuld hätte.«
»Oh, ich empfinde nichts als Zuneigung und Hochachtung für Mrs. Landon«, hob Heather an. »Jeder von uns hofft und betet darum, dass sie sich so bald wie möglich erholt und nach Hause zurückkehrt. Aber …«
»Kein Aber.« Greta setzte sich einen Glockenhut aufs ergraute Haupt. »Der junge Mann ist Teil unserer Dorfgemeinschaft. Auch wenn er in Boston gelebt hat, ist er ein Landon, also einer von uns. Ich möchte nicht wissen, was der alles mitgemacht hat. Die Vorstellung, dass man ihm auch hier das Leben schwer machen könnte, gefällt mir ganz und gar nicht.«
»Ich … So war das überhaupt nicht gemeint.« Nervös sah Heather von einer zur anderen. »Ehrlich nicht! Ich habe mir doch bloß Sorgen um Abra gemacht. Ich kann einfach nicht anders.«
»Das glaube ich dir gern.« Greta nickte Heather kurz zu. »Aber ich glaube auch, dass deine Sorgen unbegründet sind.
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