Das Geheimnis der Wellen
Willen.
Die Stufen zum Strand und das dazugehörige Geländer waren ebenfalls schneebedeckt.
Eli konnte weit und breit keinen Fußabdruck erkennen, trotzdem war die Welt da draußen nicht menschenleer. In weiter Ferne sah er, wie sich inmitten von all dem Grau etwas bewegte – ein verschwommener Umriss, der gleich wieder verschwand. Möwen flogen über den Schnee und das Meer. In der schneegedämpften Stille hörte er sie kreischen.
Er dachte an Abra.
Er drehte sich um und warf einen wenig begeisterten Blick auf den Crosstrainer. Er hatte nie gern an Geräten trai niert. Wenn er ins Schwitzen kommen wollte, spielte er lieber eine Runde Basketball.
»Ich habe weder einen Ball noch einen Korb«, sagte er mitten in die Stille hinein. »Und draußen liegt hoher Schnee. Vielleicht sollte ich die Auffahrt freischaufeln. Aber wozu? Ich fahre sowieso nirgendwohin.«
Letzteres war fast ein Jahr lang Teil seines Problems gewesen.
»Na gut. Aber Power Yoga mache ich nicht. Meine Güte, wer denkt sich denn so was aus? Vielleicht gehe ich für zehn oder fünfzehn Minuten auf den Crosstrainer.«
Früher hatte er mehrmals die Woche Zeit gefunden, ein paar Kilometer den Charles River entlangzujoggen, zumindest bei schönem Wetter. Das Laufband in seinem Fitnessstudio war nur eine Notlösung gewesen, aber auch darauf hatte er viel Zeit verbracht.
Da würde er mit dem Crosstrainer seiner Großmutter bestimmt gut zurechtkommen.
Anschließend könnte er ihr mailen, dass er die Notiz gefunden und sie befolgt hatte. Doch wenn sie ihm etwas mitzuteilen hatte, sollte sie es gefälligst selbst tun, statt ihre Yogafreundin zu benutzen.
Argwöhnisch näherte er sich dem Crosstrainer und warf einen kurzen Blick auf den Flachbildfernseher. Nein, kein Fernsehen. Er hatte aufgehört fernzuschauen, als ihm dabei ständig sein eigenes Gesicht begegnet war, begleitet von Kom mentaren über seine Schuld oder Unschuld und den schrecklichen Schilderungen seines Privatlebens.
Beim nächsten Mal – vorausgesetzt, es käme überhaupt dazu – würde er seinen iPod nehmen, doch jetzt würde er einfach seinen Gedanken nachhängen.
Um ein Gefühl für das Gerät zu bekommen, packte er die Griffe und bewegte die Beine. Daraufhin leuchtete der Name seiner Großmutter auf dem Display auf.
»Aha.« Neugierig rief er ihre Leistungen ab.
»Wow, weiter so, Gran!«
Laut ihrem letzten Eintrag vom Tag, an dem sie gestürzt war, hatte sie knapp fünf Kilometer in achtundvierzig Minuten und zweiunddreißig Sekunden geschafft.
»Nicht schlecht, aber das kann ich toppen.«
Fasziniert programmierte er sich als zweiten Nutzer ein. Er ließ es langsam angehen, wärmte sich erst in Ruhe auf, bevor er sich anstrengte.
Vierzehn Minuten und knapp zwei Kilometer später gab er sich nass geschwitzt und mit brennender Lunge geschlagen. Keuchend taumelte er zu dem kleinen Kühlschrank und nahm sich eine Flasche Wasser. Nachdem er sie ausgetrunken hatte, ließ er sich zu Boden fallen und legte sich auf den Rücken.
»Meine Güte, ich kann nicht mal mit der alten Dame mithalten. Wie peinlich.«
Er starrte an die Decke, versuchte, wieder zu Atem zu kommen, und ärgerte sich, dass seine Beinmuskeln vor lauter Anstrengung doch tatsächlich zitterten.
Er war, verdammt noch mal, Teil des Harvard-Basketball-Teams und damit ein Leistungssportler gewesen! Und jetzt war er schlaff, untergewichtig und langsam.
Er wollte, dass alles wieder so wurde wie vor dem Mord an Lindsay. Doch er musste sich eingestehen, dass sein Leben bereits vor diesem Albtraum leer und zutiefst unbefriedigend gewesen war.
Er wollte, dass alles wieder so wurde früher. Aber wie sollte das gehen? Er wusste gar nicht mehr, wie das ging, glücklich zu sein. Er wusste nur, dass er es einmal gewesen war. Er hatte Freunde gehabt, Interessen, Zukunftspläne. Er hatte so etwas wie Leidenschaft verspürt.
Er konnte keine Wut mehr empfinden, nicht einmal tief in seinem Innern, weil ihm so viel genommen worden war, er so viel durchgemacht hatte.
Er hatte Antidepressiva genommen. Er war zum Psychologen gegangen. Aber darauf hatte er keine Lust mehr.
Andererseits konnte er schlecht nass geschwitzt auf dem Boden liegen bleiben. Er musste etwas tun, egal was, und sei es auch noch so banal.
Eins nach dem anderen, ermahnte er sich.
Er stand auf und humpelte unter die Dusche.
Dabei ignorierte er die Stimme in seinem Kopf, die ihn dazu drängte, sich hinzulegen und den Rest des Tages zu verschlafen.
Weitere Kostenlose Bücher