Das Geheimnis der Wellen
Das war eine wunderbare Yogastunde, Abra.«
»Danke. Soll ich dich heimfahren? Es schneit ziemlich heftig.«
»Ich glaube, den dreiminütigen Fußmarsch schaffe ich durchaus noch.«
Die Frauen bildeten Grüppchen und strömten nach draußen. Nur Maureen blieb zurück.
»Heather ist eine blöde Kuh«, bemerkte Maureen.
»Sie ist nicht die Einzige, die so denkt: Wenn er verdächtigt wurde, muss er schuldig sein. Aber das ist Quatsch.«
»Natürlich.« Maureen O’Malley, deren Igelfrisur genauso feuerrot war wie ihre Augenbrauen, nahm noch einen Schluck aus ihrer Wasserflasche. »Das Problem ist nur, dass ich viel leicht genauso denken würde, würde ich Eli nicht so gut kennen.«
»Das wusste ich gar nicht.«
»Er war mein erster Freund.«
»Warte.« Abra zeigte auf sie. »Das ist eine Geschichte für ein Glas Wein.«
»Du musst gar nicht so drängeln. Ich schreibe Mike nur schnell eine SMS, dass ich eine halbe Stunde später komme.«
»Gut, ich schenke in der Zwischenzeit den Wein ein.«
In der Küche entschied sich Abra für eine Flasche Shiraz, während Maureen sich im gemütlichen Wohnzimmer aufs Sofa fallen ließ.
»Er hat nichts dagegen. Die Kinder haben sich noch nicht gegenseitig umgebracht und toben gerade im Schnee.« Sie sah von ihrem Handy auf, als Abra ihr den Wein reichte und ebenfalls Platz nahm. »Danke. Das gibt mir Kraft, bevor ich mich nebenan wieder in die Schlacht stürze und meine Truppen verköstige.«
»Er war dein Freund?«
»Ich war fünfzehn. Obwohl ich damals nicht mehr ganz unschuldig war, gab er mir meinen ersten richtigen Kuss: mit Zunge, Händen und viel Gestöhne. Wobei ich dazusagen muss, dass der Junge fantastische Lippen und sehr schöne Hände hatte. Zugegeben, er war der Erste, der diese Prachtstücke berühren durfte.« Sie klopfte sich auf die Brust und nippte an ihrem Wein. »Wenn auch nicht der Letzte.«
»Weiter!«
»Am 4. Juli haben wir nach dem Feuerwerk ein Lagerfeuer am Strand gemacht. Wir waren zu mehreren. Meine Eltern hatten es mir erlaubt, allerdings erst nach heftigen Kämpfen. Nach meinen Erfahrungen von damals werden es meine Kinder deutlich schwerer haben. Er war so süß. Eli Landon war für einen ganzen Monat aus Boston gekommen. Ich habe mich sofort in ihn verguckt. Allerdings nicht als Einzige.«
»Wie süß genau?«
»Seine Locken wurden durch die Sonne immer heller, und dann diese fantastischen kristallblauen Augen! Außerdem hatte er ein Lächeln, bei dem man einfach in Ohnmacht fallen musste, und eine perfekte Figur. Soweit ich weiß, hat er Basketball gespielt. Wenn er nicht mit nacktem Oberkörper am Strand war, spielte er im Gemeindezentrum Basketball – ebenfalls mit nacktem Oberkörper.«
»Er hat abgenommen«, bemerkte Abra. »Er ist zu dünn.«
»Ich habe ein paar Fotos gesehen und die Bilder in den Nachrichten. Ja, er ist zu dünn. Aber in dem Sommer damals? Da sah er unglaublich gut aus, jung, glücklich, und er war amüsant. Ich habe wie verrückt geflirtet, und das Lagerfeuer hat seinen Teil dazu beigetragen. Als er mich das erste Mal geküsst hat, saßen wir am Feuer. Es lief Musik, einige von uns haben getanzt, andere waren im Wasser. Eins kam zum anderen, und wir sind zum Pier gegangen.«
Sie seufzte verzückt. »Wir waren nichts weiter als ein Haufen hormongesteuerter Teenager in einer warmen Sommernacht. Ich bin nicht weitergegangen als erlaubt, auch wenn mein Vater das bestimmt anders gesehen hätte. So etwas hatte ich bis dahin noch nicht erlebt. Heute kommt einem das alles so harmlos und unschuldig vor, aber es war wahnsinnig romantisch: die Wellen, das Meer, das Mondlicht, die Musik vom Strand, zwei warme, halb nackte Körper, die gerade erst begreifen, wofür sie gemacht sind. Und dann …«
»Was dann?« Abra gestikulierte ungeduldig. »Was ist dann passiert?«
»Wir sind zurück zum Lagerfeuer. Ich glaube, ich wäre weitergegangen, wenn er mich nicht wieder zu den anderen zurückgebracht hätte. Ich war so unvorbereitet auf das, was mit dem Körper passiert, wenn jemand auf den richtigen Knopf drückt, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Und ob ich das verstehe.«
»Aber er hat aufgehört und mich anschließend nach Hause gebracht. Ich habe ihn dann noch ein paar Mal gesehen, bevor er nach Boston zurückfuhr. Wir haben uns geküsst, aber kein Kuss ist mir so gut in Erinnerung geblieben wie der erste. Als er das nächste Mal auf Besuch kam, hatten wir beide andere Partner. Wir sind danach nie mehr
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