Das Geheimnis Des Amuletts
Stummelkerze zu entfachen. Ein flackerndes Leuchten erhellte jetzt das Zimmer mit seinen staubigen Samtvorhängen und den abgenutzten Wandteppichen. Agnes hatte hier gearbeitet und gelernt, und gehofft und geträumt und für Sebastian gebetet. Die Luft war mit Erinnerungen an sie geschwängert.
»Agnes«, flüsterte ich. »Hilf mir jetzt.«
Meine Kerze brannte gleichmäßig, als ich mich an den geschnitzten Holztisch setzte. Jede Menge gefüllter Krüge und Pergamentrollen befanden sich darauf. Ich schob die Sachen vorsichtig zu einer Seite, nahm das Siegel ab und legte es auf die schimmernde Tischplatte.
Das Siegel war einfach, beinahe schlicht. Es hatte die Form eines Kreises und wurde von zwei gebogenen Formen gekreuzt, die mich manchmal an Flügel erinnerten, manchmal an scharfe Dolche. Die Brosche besaß ansonsten keine weitere Ausschmückung oder einen Edelstein oder sonst ein Kennzeichen. Sie war nicht so schön wie der glänzende Talisman, aber ihre Gestaltung war gut, als wäre sie genau das, als das sie gedacht gewesen war. Ich hörte wieder, was meine Mutter über das Siegel gesagt hatte, und mein Herz begann zu rasen.
Du wirst das Siegel beanspruchen und alles, was es enthält. Ich nahm die Brosche in die Hand und hauchte sie an. Sie schien im sanften Kerzenlicht zu glühen. Meine Mutter hatte gesagt, dass das Siegel seine Macht verloren hätte, nachdem sie seinen Ruf zurückgewiesen hatte, aber vielleicht würde diese Macht für mich wieder erwachen? Es kam mir so vor, als würde ich mich selbst sehen, wie ich ganz in Weiß auf dem Kamm stand, das Siegel wie ein Stern auf der Brust und vor Freude zitternd. Immer in Schönheit und Licht zu weilen …
War es möglich, dass ein solches Schicksal auf mich wartete? Wie konnte ich es erlangen? Schönheit und Licht – das war es, wonach ich mich immer gesehnt hatte. Wieder erklang die verführerische Stimme meiner Mutter in der Luft, als sie flüsterte: Oder ist es Liebe, was du begehrst?
Oh, Liebe – Liebe! Sooft ich mir auch einredete, dass sie nicht für mich gedacht war, wusste ich doch tief in meinem Innern, dass ich mich danach sehnte zu lieben und geliebt zu werden. Ein Junge mit blonden Haaren und lachenden blauen Augen … wie würde so etwas sein? Miss Scrattons Worte kehrten zu mir zurück und raubten mir den Atem: Dann wird jemand anderes kommen, weder Mutter noch Vater noch Schwester noch Bruder, sondern jemand, der dich über alle Grenzen dieser Welt hinaus lieben wird. So viel kann ich dir versprechen. Das ist deine Bestimmung. Konnte das Siegel wirklich dazu beitragen, dass dies geschah? Ich wusste kaum, was ich denken – oder tun – sollte. Ich konnte kaum noch stillsitzen; am liebsten wäre ich nach draußen gelaufen und über die Moors gestreift, hätte mich vom Wind hin und her wehen lassen, als wäre es die Liebe selbst, die mich überwältigte, wieder alles von vorn beginnen ließ.
Ich hatte mich natürlich immer nach der Liebe meiner Mutter gesehnt. Aber es gab noch eine andere Liebe, die Welten erleuchten und wie eine Sonne brennen konnte, es war die Berührung der Liebe, die Zärtlichkeit eines Liebenden … würde ich es denn jemals verdienen, mich in den Augen von jemand anderem als kostbar zu empfinden? Würde der Tag heraufdämmern – der Morgen, nach dem ich Ausschau halten sollte, wie mein Traum es mir gesagt hatte –, da ich nicht mehr allein sein würde? Ich konnte wieder die tanzende Musik des Schülers hören, wie ein Hauch wilder Luft, und es kam mir so vor, als wüsste ich, dass alles, was ich mir heimlich ersehnte, durch dieses Siegel kommen könnte, wenn ich nur herausfand, wie ich es zum Leben erwecken konnte. In diesem Moment wollte ich alles, wovon meine Mutter gesprochen hatte – Schönheit und Macht und Weisheit und Liebe. Alles, was dein Herz begehrt , schien sie mir wieder zuzuflüstern. Es wird Zeit, dass du dich von der Vergangenheit und dem, was hätte sein können, abwendest … das Siegel ergreifst … Ich war geblendet von ihren Worten. Ich würde all meine Trauer und meine Zweifel und Selbstablehnung aufgeben. Ich würde wieder neu werden, verherrlicht durch das Große Siegel. Es konnte alles mir gehören, wenn ich es nur einfach als mein Recht beanspruchte.
»Erwache!«, befahl ich leise flüsternd. »Erwache und sei mein!«
Ein Windstoß löschte die Kerze. Ich fuhr hoch und ließ die Brosche auf den Boden fallen. Eine Eule schrie draußen in der Nacht. Die kleine Dachkammer wirkte
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