Das Geheimnis Des Amuletts
auf, zog meinen Arm aus ihrem Griff und rannte aus dem Zimmer.
»Helen, warte – komm zurück!«
Aber ich konnte nicht bleiben. Ich spürte, wie die Angst mich einhüllte. Die verführerischen Versprechen, die meine Mutter am Tag zuvor von sich gegeben hatte, schienen zu zerbrechen, als wären sie aus Glas. Eine Stimme rief meinen Namen, und Entsetzen breitete sich in mir aus. Es war eine Stimme, die ich vor langer Zeit gekannt hatte, und sie gehörte jemandem, den ich mühsam zu vergessen versucht hatte. Ich musste weg. Blindlings lief ich weiter, ohne wirklich zu wissen, wohin ich ging. Dann hörte ich eine andere Stimme, hell und aus weiter Ferne, die sagte: »Erinnere dich an den Schlüssel, der jede Tür öffnet … erinnere dich daran, wenn deine Freunde in Gefahr sind … erinnere dich an den Schlüssel …«
Während ich den Korridor entlangstolperte, wollte ich nur noch in Ruhe gelassen werden, aber etwas – jemand – rief mich. Das Zeichen auf meinem Arm brannte wieder. Der Sommer war vorüber. Ängste und Bedrohungen sammelten sich wie herabfallende Blätter um mich herum. Der Schlüssel, der jede Tür öffnete – war er verbunden mit dem »Geheimnis der Schlüssel«, von dem Miss Scratton gesprochen hatte? Aber wie sollte ich ihn finden? Und wo?
Ich konnte niemanden fragen. Miss Scratton war verschwunden. Meine Mutter hatte die Antworten auf so viele Fragen, aber es war ein gefährliches Spiel, ihr zu vertrauen, egal, was mein Herz gern glauben wollte. Und ich weigerte mich, Evie und Sarah noch weiter in die Sache hineinzuziehen. Wenn deine Freunde in Gefahr sind , hatte die Stimme gesagt. Ich konnte nicht zulassen, dass sie jemals wieder in Gefahr gerieten. Ich musste alles selbst herausfinden, und obwohl ich meine Schwestern sehr liebte, würde ich sie von jetzt an als Fremde betrachten müssen.
Acht
Aus dem Tagebuch von Helen Black
26. September
Wenn ich meine Mutter nur besser kennen würde. Wenn ich nur wüsste, ob ihre Worte wahr sind oder verdrehte Lügen. Wenn wir uns nur nicht so furchtbar fremd wären.
Dein Gesicht ist eine Maske.
Sie verbirgt deine Seele. Du willst mit mir befreundet sein.
Du willst meine Mutter sein.
Und du willst mir den Glauben vermitteln,
Schön zu sein.
Masken tanzen in der Dunkelheit,
Stimmen singen in der Nacht.
Was befindet sich hinter der Maske?
Was ist das Ende vom Lied?
Was ist deine Wahrheit
Wunderschöner Fremder?
Ich hatte ihn wiedergesehen – den Fremden, den Schüler von St. Martin’s, aber seinen Namen kannte ich immer noch nicht.
Seit meiner Begegnung mit dem Geist meiner Mutter auf dem Ridge waren ein paar Tage vergangen. Ich war seither nicht wieder zurückgekehrt, um erneut mit ihr zu sprechen – ich zwang mich, dem Ort fernzubleiben und einige Zeit verstreichen zu lassen, während ich ihre Worte abwägte. Jedes Mal, wenn ich Evie und Sarah im Unterricht oder beim Essen oder im Schlafsaal sah, spürte ich, wie sie mich vorsichtig abschätzten und versuchten herauszufinden, was vor sich ging, wie ich mit allem »klarkam«. Ich wiederum gab mir alle Mühe, sie auf Distanz zu halten, versicherte ihnen höflich, dass es mir vollkommen gut ginge. Sie waren so … so fürsorglich, aber meistens waren sie zu fürsorglich, und ich hatte das Gefühl, als würden sie mich wie irgendein verletztes Geschöpf ansehen, das man im Auge behalten und gesundpflegen musste. Ich war ihnen ein Rätsel, sagten sie mit ihrem sanften, liebevollen Lächeln. Du bist für uns so ein Rätsel, Helen. Ein Rätsel und ein Geheimnis …
Es kam mir so vor, als wäre das einfach nur eine etwas freundlichere Art und Weise, »die verrückte Helen Black« zu sagen. Es gefiel mir nicht. Ich hatte genug davon, bemitleidet und beobachtet zu werden und zu erleben, dass man sich Sorgen um mich machte. Eine Phantasie tauchte immer wieder in meinem Geist auf, wie ich in der Lage war, vor sie zu treten und zu verkünden: »Seht her, ich habe meine Mutter gerettet, sie hat sich von den Dunklen Mächten verabschiedet und ist ins Licht gegangen, und sie hat mir gesagt, dass sie mich liebt, bevor sie weggegangen ist, und jetzt ist der Hexenzirkel zerbrochen, und ihr seid frei und ich auch.«
Hatte ich wirklich geglaubt, dass so etwas jemals passieren könnte? Ich wollte es so gern glauben. Ich wollte, dass es so war. Ich wollte meine Angst vergessen, wollte die Stimme vergessen, die ich gehört hatte, und ich wollte mir einreden, dass ich mit Leichtigkeit die »Schlüssel« finden
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